Wiktor Kowalcyk weiß von nichts. Der Fernfahrer steht neben der Fahrerkabine seines Lastwagens. In der einen Hand hält er ein Bier, in der anderen eine Wurst, eingeklappt in zwei Brötchenhälften. Es ist abends, Kowalcyk parkt auf dem ansonsten leeren Festplatz in Tengen. Er hat Stahlplatten aus der Schweiz geladen. Morgen muss er sie bei Dortmund abliefern.
Auf der B 314 bei Tengen hat er gemerkt: Jetzt muss er raus fahren, Ruhezeit einhalten! Nein, vom Schätzele-Markt hat Wiktor Kowalcyk noch nie gehört. Er weiß nichts davon, dass hier am nächsten Wochenende das größte Volksfest der Region stattfinden würde – wenn es Corona nicht gäbe. Statt nach Zuckerwatte und gebrannten Mandeln riecht es an diesem Abend nach dem Staub und frischem Holz der angrenzenden Ärztehaus-Baustelle.
Risiko für Besucher ist zu groß
Einer, der mehr über die Umstände des ausgebliebenen Marktes weiß, ist Simon Weber. Er gehört zum Vorstandsteam der Tengener Stadtkapelle. „Vor einigen Monaten sind wir vor der Entscheidung gestanden“, erläutert der Vorsitzende. Bei einer Videokonferenz hätten sie einstimmig beschlossen: „Aufgrund dieser Fallzahlen können wir als Stadtkapelle keine Großveranstaltung im Zelt anbieten.“

Zu groß sei das Risiko, dass sich die Besucher nach drei oder vier Bier nicht mehr an die Abstandsregeln halten. „Aus Rücksicht auf die Gesundheit der Besucher wollten wir dieses Risiko nicht eingehen“, so Simon Weber. Die aktuellen Zahlen geben ihm recht. „Hätte der Schätzele-Markt stattgefunden, hätte dies Sicherheit signalisiert. Eine Sicherheit, die es aber nicht gibt.“
Finanzsperre bei der Stadtkapelle
Ohne Schätzele-Markt fehlen der Tengener Stadtkapelle Einnahmen. Dazu erklärt Simon Weber: „Wir haben eine Finanzsperre verhängt. Wir beschränken uns auf die wichtigsten Ausgaben.“ Zu diesen gehöre etwa der Dirigent und die Noten für ein geplantes Weihnachtskonzert – von dem man aber auch noch nicht wisse, ob es überhaupt stattfinden kann.
Als die Absage des Schätzele-Marktes noch ganz frisch war, nahm Tengens Pfarrer Harald Dörflinger Abschied von der Gemeinde. Der Seelsorger, der 14 Jahre lang für die Tengener Katholiken zuständig war, versuchte dem Ausbleiben des Marktes noch eine positive Seite abzugewinnen: „Vielleicht hilft das dem ein oder anderen, zu entschleunigen. Unsere Terminkalender sind so voll. Möglicherweise wäre es hilfreich, so ein großes Volksfest künftig nur alle zwei Jahre durchzuführen.“
Gähnende Leere statt Festzelt
Dass Wiktor Kowalcyk seinen Lastwagen genau dort geparkt hat, wo sonst das Riesenrad steht, konnte er sich nicht vorstellen. Die laute Ansagerstimme beim Autoscooter ist dieses Jahr nicht zu hören. Kein Festzelt steht da, aus dem Blasmusik schmettern könnte.

Und anstatt Stimmengewirr von Zehntausenden Besuchern, die sich über den Schätzele-Markt schieben, herrscht gähnende Leere. Wenn kein Stau dazwischen gekommen ist, hat Kowalcyk seine Stahlplatten inzwischen schon längst bei Dortmund abgeliefert – und den leeren Festplatz von Tengen wieder vergessen.