Wie vielen Menschen ist wohl bewusst, wer der Erzbergerstraße ihren Namen gegeben hat? Ein Herr Erzberger war es vermutlich, klar, aber was steckt dahinter? SPD-Landtagsabgeordneter Hans-Peter Storz gibt unumwunden zu, dass er die Hintergründe einer zentralen Straße der Stadt nicht kannte. Zumindest bisher nicht: Zum 100. Todestag von Matthias Erzberger möchte er darauf aufmerksam machen. Am 26. August 1921 starb der Mann, der als Leiter der Waffenstillstandskomission den Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnete und damit die Kampfhandlungen des Ersten Weltkrieges beendete. Als Finanzminister legte er außerdem den Grundstein für die heutige Steuerpolitik.

Viel über diesen besonderen Mann erzählen kann Dieter Stadtfeld aus Radolfzell, denn sein Schwieger-Großvater Carl Diez war Zeitzeuge beim Attentat auf Erzberger.

Herausragende Person der deutschen Demokratie

„Es ist höchste Zeit, an die herausragende Person der deutschen Demokratie zu erinnern“, findet Dieter Stadtfeld. Der pensionierte Arzt ist vor vier Jahren nach Radolfzell gezogen. Als begeisterter Filmemacher hat er einen Film über Carl Diez erstellt: Carl Dietz – Ich bleibe. Der soll möglicherweise am Tag der Zivilcourage in Singen zu sehen sein, doch diese Idee ist noch nicht konkret. Erstmal will Stadtfeld einen Einblick in besondere Zeiten bieten.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Veranstaltung zur Erinnerung an die Ermordung von Matthias Erzberger vor 100 Jahren am ...
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Veranstaltung zur Erinnerung an die Ermordung von Matthias Erzberger vor 100 Jahren am 17. August in Berlin. | Bild: Bernd Von Jutrczenka

Carl Diez und Matthias Erzberger hätten viel gemeinsam gehabt: Beide waren Demokraten, beide waren gläubig. Beide hätten immer wieder zwischen den Stühlen gesessen und nur das eigene Gewissen als Richtschnur gehabt. Und beide wurden zum Feindbild für Rechtsradikale – Diez wurde im Dritten Reich immer wieder inhaftiert, Erzberger schon 1921 von Rechtsradikalen erschossen.

Rechtsradikale wollten mit ihm die Demokratie verletzen

Damit war er einer der ersten Berufspolitiker, die aus politischen Motiven ermordet wurden, wie ein Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit festhält. Sieben Attentate in zwei Jahren habe er überlebt, das am 26. August jedoch nicht.

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Dabei sei es nicht um ihn gegangen, habe Erzberger laut Stadtfeld betont: Wer ihn verletzen und töten wolle, habe es auf die Demokratie abgesehen.

Ein Jahr nach dem Attentat wird Erzbergerstraße benannt

Hundert Jahre später weiß kaum jemand etwas über ihn – obwohl landesweit Straßen nach ihm benannt sind und das Haus der Geschichte 2021 zum Erzberger-Jahr erklärte. Dabei habe er habe unter anderem eine Steuerreform geschaffen, ohne die es heute nicht möglich wäre, die finanziellen Belastungen des Landes zu bewältigen, so Stadtfeld. Die Erzbergerstraße erinnert seit 99 Jahren an diesen Ausnahme-Politiker, wie das Stadtarchiv Singen auf Nachfrage verrät. „Zum ersten Mal wurde sie 1922 benannt durch einen Gemeinderatsbeschluss vom 13. Juli 1922“, erklärt Jolanta Dusilo. Zuvor sei die Straße als Friedrichstraße vermerkt gewesen.

Bild 2: Ehre für ein besonderes Attentats-Opfer: Die Geschichte hinter der Erzbergerstraße in Singen

Doch wie einige andere wurde die Erzbergerstraße nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten umbenannt: Die Erzbergerstraße wurde zur Hindenburgstraße. Allerdings nur bis 1945, denn nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die Straße rasch ihren alten Namen wieder und behielt ihn bis heute.

Auch andere Straßen wechselten die Namen

Ähnlich war es bei anderen Straßen: Die heutige August-Ruf-Straße hatte sogar vier Namen. Aus der Kaiserstraße wurde erst die Walter-Rathenau-Straße, dann die Adolf-Hitler-Straße und dann die August-Ruf-Straße. Und die Schaffhauser Straße hieß zwischendurch Gottmadinger Straße, die Alemannenstraße hieß für einige Jahre Robert-Wagner-Straße. Nach und nach sollen laut Stadtarchiv auch Schilder angefertigt werden, um Passanten die Hintergründe einer Straßenbenennung zu erklären.

War Erzberger ein historischer Influencer?

Erzbergers sei ein tolles Beispiel für ein demokratisches Vorbild, befand Hans-Peter Storz. Der SPD-Landtagsabgeordnete kam über die Stolperstein-Initiative mit Dieter Stadtfeld in Kontakt. „So ein Vorbild kann helfen, das hohe Gut der Demokratie wertzuschätzen“, sagte er beim Pressetermin. Überall gebe es Influencer und Vorbilder, aber das Demokratieverständnis habe in den vergangenen Jahren nachgelassen. Viele Menschen würden sich nicht für Politik interessieren und nicht wählen gehen. Das zeigte sich zuletzt bei Singens Oberbürgermeisterwahl, wo nur jeder vierte Wahlberechtigte sein Kreuz machte.

Dabei steht in wenigen Wochen die nächste Wahl an: Am Sonntag, 26. September, werden die Mitglieder des nächsten Bundestags gewählt. Und da darf man gleich zwei Kreuze machen, eins beim Wunsch-Abgeordneten und eins bei einer Partei.

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