"Ich warte seit Wochen auf diesen Tag..." Dass der Techniker kurz vergisst, diese Liedzeile auf die Leinwand zu projizieren, tut der Stimmung in der Gems keinen Abbruch. Die Teilnehmer des ersten Singener Rudelsingens sind textsicher: "Und tanz vor Freude über den Asphalt", stimmen sie schon die nächste Zeile an. Schließlich merken Gabriel Bukarz, Gregor Panasiuk und Thomas Lorenz, die den 200-stimmigen Chor mit ihren Instrumenten begleiten, dass etwas nicht stimmt. Sie brechen "Tage wie diese" ab. Der Fehler wird behoben.

Bevor Thomas Lorenz den Toten-Hosen-Song zum zweiten Mal anstimmt, muss der Mann am Bass aber ein Lob los werden: "Singen, ihr macht eurem Namen alle Ehre", proklamiert der musikalische Leitwolf von der Bühne herab. Recht hat er. Einstimmen oder aufwärmen hat hier niemand nötig. Vom ersten Akkord des ersten Lieds an sind die Teilnehmer in der fast voll besetzten Gems auf Betriebstemperatur. Hannes Waders "Heute hier, morgen dort" wird direkt mit Inbrunst mitgeschmettert. Zu "Über den Wolken", das die Band im flotten Flamenco-Rhythmus einschließlich "Aiaiai"-Stelle darbietet, erheben sich die letzten verbliebenen Sitzplätzler von ihren Stühlen. Und spätestens als anschließend der kleine grüne Kaktus sticht, sticht, sticht, ballen die ersten Teilnehmer begeistert die Fäuste.
Mitschunkeln und Abrocken
Lorenz übernimmt bei der zweieinhalbstündigen Massenkaraoke-Party die Rolle des Ansagers. Dabei macht sich der Musiklehrer aus Tettnang einen Spaß daraus, sein Rudel raten zu lassen, welcher Liedtitel wohl als nächstes auf der Leinwand erscheinen wird. Als größte deutsche Boyband aller Zeiten hat er eben noch die Comedian Harmonists angekündigt. Jetzt wird er noch eine Spur kryptischer. Es ginge um das Buch eines Schriftstellers, der am Bodensee gelebt hat – und um einen Film, in dem Biker auf Harley-Davidson-Motorrädern eine Rolle spielen. "Steppenwolf, Born to be Wild" schallt es ihm entgegen. Bingo! Und wo die Menge sich vorhin noch im Dreiviertel-Takt der Elvis-Presley-Ballade "Can't help falling in love" gewiegt hat, gibt jetzt eine rotzige E-Gitarre den Ton an.

"Morgen in der Chorprobe hab' ich bestimmt Halsweh", meint Barbara Keller-Brütsch und lacht. Die Seniorin ist mit ihrer Freundin Ursula Rutz gekommen. Was sie heute erwartet, konnten sich beide nicht so richtig vorstellen, aber die Ankündigung im SÜDKURIER hatte sie neugierig gemacht. "Es gefällt mir gut", sagt Ursula Rutz. "Wäre man alleine, würden einem wahrscheinlich bei vielen Liedern Text und Melodie gar nicht einfallen", mutmaßt sie. "Aber in der Gruppe klappt das super." Das Warten auf das Rudelsingen hat sich aus ihrer Sicht mehr als gelohnt.
Das ist Rudelsingen
Beim Rudelsingen treffen sich Menschen in lockerer Atmosphäre und singen Hits und Gassenhauer. Die Texte werden an die Wand projiziert, eine Band sorgt für die Begleitung. Entwickelt wurde das Format von David Rauterberg, der das erste Rudelsingen 2011 in Münster initiierte. Mittlerweile sind zehn Teams bundesweit in über 100 Städten im Einsatz. Die Zahl der monatlichen Teilnehmer wird auf 10 000 geschätzt. Das Rudelsingen in der Gems war eine Premiere. Im Mai soll es eine weitere Auflage geben.