Georg Lange

Von vielen erwartet und sogar gefordert, aber auch von vielen gefürchtet – erneut befindet sich das Land im Shutdown mit schweren Kontaktbeschränkungen. „Den ersten haben viele mit Vernunft und viel Energie hinbekommen“, beobachtete Beate Hübner von der psychologischen Beratungsstelle der Diakonie für den Landkreis Konstanz: Und über den Sommer hätten die Menschen wieder Luft geholt.

Aber beim zweiten Herunterfahren merke man, dass Alleinerziehende und kinderreiche Familien in beengten Wohnverhältnissen dieses fürchteten. Insgesamt werden die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit sozialer Distanzierung und Kontaktbeschränkung nahezu ein Jahr andauern. „Das ist echt brutal“, urteilt die Psychologin. Vom Shutdown mit betroffen sind hochbetagte Senioren, Menschen mit existenziellen Nöten, Alleinstehende sowie Kinder, die von häuslicher und sexualisierter Gewalt bedroht sind.

Seit geraumer Zeit stelle die Pandemie eine Herausforderung für die Menschen dar, befindet Beate Hübner: Und man merke, dass die Ressourcen aufgebraucht seien. Jeder Mensch habe seine Methode, um wieder Kraft zu schöpfen. Doch vieles, wobei die Menschen zu Kräften kommen könnten, sei heruntergefahren. Eine Stärke des Menschen sei, dass er in ein Funktionieren hineingehen könne. Doch irgendwann müsse auch er seine Akkus wieder aufladen können, erläutert die Psychologin. Dies gehe über Sport, über soziale Kontakte sowie über Interessen, beispielsweise in Vereinen.

Doch all das sei im Shutdown und bei den strengen Kontaktbeschränkungen erneut heruntergefahren. Das mache den Menschen mürbe. Und wenn man seine eigene Stressregulierung nicht mehr so gut in Griff bekomme und permanent in einer Überforderung lebe, so könne es garstig werden, weiß Hübner zu berichten.

Gerade jetzt muss Hilfe angeboten werden

Aktuell gebe es viele Gespräche in der psychologischen Beratungsstelle der Diakonie. Wegen der neuen strengen Kontaktbeschränkungen sei zur Diskussion gestanden, ob sie abgesagt, ins neue Jahr oder auf Telefonate verlegt werden sollten. Doch gerade jetzt und vor Weihnachten bedürfe es einer Krisenintervention, weil die Menschen in einer Situation der Überforderung stünden.

Mit dem zweiten Shutdown und den damit verbundenen strengeren Kontaktbeschränkungen würden vor allem Alleinstehende leiden, die ihr soziales Leben nicht mehr leben könnten, wie sie das für ihr Leben brauchen, erläutert Beate Hübner. Für die Psychologin ist der Mensch „ein zutiefst soziales Wesen“. Gerade in seinem Gegenüber erlebe er sein eigenes Ich. Reduziere sich das oder falle dieses weg, so könne er darunter leiden.

Bei alten Menschen kommen Kriegserinnerungen hoch

Das Eingebundensein in soziale Kontexte ermögliche dem Menschen Auseinandersetzungen, Korrekturen wie auch das eigene Erblühen. Fehle dies durch die Kontaktbeschränkungen und kämen Neigungen zu depressiven Verstimmungen hinzu, so sei es schwer, aus Gedankenkreisen herauszukommen. Die Psychologin kennt von ihrer Beratung auch Hochbetagte, die ihre Kriegserlebnisse jahrzehntelang mit Aufgaben, Arbeit und Ablenkungen kompensieren konnten. Die Senioren würden durch den im Alter schwächer werdenden Abwehrmechanismus nun mit ihren Kriegserlebnissen konfrontiert. Die Psychologin empfiehlt hier eine professionelle Begleitung.

Auch wenn die Gefühlswelt bedrohlich erscheinen könne, wünscht Hübner den Menschen eine Neugierde, um genau hin zu sehen, wo diese Gefühle herkommen könnten. Es gehe hier um die Entwicklung einer Sensibilität für sich selbst und auch um ein Annehmen seines Selbst.

Jeder muss mit sich selbst klarkommen können

Hübner begreift die Krise auch als Chance, wobei der Einzelne mit seinen Themen konfrontiert werde, die er im Alltag habe wegdrücken können. Es gehe um eine Kunst des Alleinseins und um die Frage, wie man sich selbst ein guter Begleiter und Freund werden könne. Kurzum: Wie komme ich mit mir selbst klar? Hilfreich seien manchmal Vergleichsprozesse, die das Leid relativieren. Sie würden Dinge zurechtrücken und in Relation bringen.

Förderlich sei auch die Aufforderung an sich selbst, sich Gedanken darüber zu machen, was gut gelaufen sei und wofür man dankbar sein könne.

Wichtige Alltagsrituale fallen weg

Rituale gäben eine innere Ruhe und eine Struktur im Leben. Gerade Kinder liebten es, dass der Tisch immer gleich gedeckt sei oder die Mutter das Gleiche mache, so Hübner: Weil es den Kindern Vertrautes, Ruhe und Heimat gebe. Aus dieser Wurzel heraus könnten sich Kinder mit Neugierde dem spannenden Leben zuwenden.

Doch die Rituale seien in ständiger Unordnung. Schulen schlössen und öffneten wieder, um erneut geschlossen zu werden. Es herrsche die Pflicht zur Maske, die aufgehoben und wieder eingeführt werde. Nicht nur die Schule sei im Umbruch, auch das Elternhaus erlebe Existenzängste. Für Kinder berge das Unsicherheiten. In beengten Wohnverhältnissen könnten so Spannungen wachsen, die zur Explosion führen und das Kindeswohl gefährden.

Manchen Kindern fehlt der Schutzraum Schule

Gerade in einem Shutdown fehle die Schulsozialarbeit, die einen Blick auf Kinder habe, um sie zu schützen, wenn Familien überfordert seien. Hübner macht keinen Hehl aus der Lage. Dieses Korrektiv habe bereits beim ersten Shutdown gefehlt – auch im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch, bei dem unter Umständen Täter vermehrt zu Hause seien und dem Kind der Schutzraum Schule fehle. „Das hat uns sehr beschäftigt und bereitet in Fachkreisen große Sorgen“, so Hübner.