Montagmorgen in der Notaufnahme des Hegau-Bodensee-Klinikums Singen. Rechts und links im Flur liegen Patienten in Krankenhausbetten, die Sitzplätze im Wartebereich sind alle besetzt, in den Untersuchungsbereichen warten weitere Patienten. Andreas Berkowitz, der für die pflegerische Leitung zuständig ist, geht auf einen Mann zu, der im Rollstuhl sitzt. Ihm sei schwindelig und er habe Husten, erklärt ihm der Mann. Bis eben sei er bei seiner Frau gewesen, die hier im Krankenhaus auf Station liege. Andreas Berkowitz schiebt ihn im Rollstuhl in einen Raum, um eine Ersteinschätzung vorzunehmen. Der 29-Jährige fühlt sich nicht in der Lage, sich auf einen Stuhl zu setzen. Der Pfleger holt ein Krankenhausbett, damit sich der Mann hinlegen kann. Er hat kein Fieber, die Sauerstoffsättigung ist in Ordnung, Blutdruck und Puls auch. Er klagt über leichte Schmerzen in der Brust aufgrund seines Hustens. Andreas Berkowitz zieht sich mit dem Oberarzt Thomas Münkle zurück und berät sich. Beide kommen überein, dass es sich hier um keinen dringenden Notfall handelt und der Mann theoretisch vom Hausarzt weiterbehandelt werden kann. Doch sie werden den Mann später genauer durchchecken lassen, um sicherzugehen. Während des Beratungsgesprächs klopft der Patient liegend an die Türe. Er möchte sofort etwas gegen seinen Husten haben. Doch der Patient wird sich gedulden müssen. "Hier in der Notaufnahme geht es nach Dringlichkeit", betont Thomas Münkle.

Der 29-jährige Patient ist kein Einzelfall. Immer mehr nutzen die Notaufnahme eines Krankenhauses als erweiterte Sprechstunde, Tendenz steigend. "Wir haben aber nur eine begrenzte Kapazität und das geht zu Lasten derer, die wirklich auf unsere Hilfe angewiesen sind", erklärt der Oberarzt. In der Notaufnahme wird kein Patient abgelehnt. "Ist ein Patient erst mal hier, dann schauen wir ihn auch an, wir schicken niemanden ungesehen weg", sagt der 44-Jährige, der seit sieben Jahren in der Notaufnahme arbeitet. Aber wenn jemand mit einem Husten oder Schnupfen komme, behindere er die Arbeit der Notaufnahme.

Oberarzt Thomas Münkle wird ins Zimmer nebenan gerufen. Dort liegt ein 85-jähriger Mann mit einer tiefen Risswunde am Ellenbogen und großen Blutergüssen an Arm und Hüfte. Sein Hausarzt hat ihn in die Notaufnahme geschickt. Nebendran sitzt seine Frau, die ihn selbst ins Krankenhaus gefahren hat, weil er nicht mit einem Krankenwagen kommen wollte. "Er ist in der Küche gestürzt und der Hausarzt hat Herzrhythmusstörungen festgestellt", erläutert Assistenzärztin Christine Fuchs. Darüber, dass der 85-Jährige stationär aufgenommen und behandelt werden muss, gibt es unter den Ärzten keine Diskussion.

Laut Gutachten der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) ist jeder dritte Patient in einer Notaufnahme eines Krankenhauses fehl am Platz. "In Baden-Württemberg kommen jedes Jahr rund 50 000 Patienten zusätzlich in die Notaufnahmen der Krankenhäuser", sagt Annette Baumer von der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG). Pro Notfallpatient entstehe in den Kliniken im Durchschnitt ein Defizit von über 80 Euro. "Hier besteht dringender gesetzlicher Handlungsbedarf", so Baumer. 2010 wurden am Hegau-Bodensee-Klinikum in Singen 33 344 Patienten in der Klinik-Notaufnahme behandelt und 2016 waren es 36 552. Darunter viele, die keine Notfälle waren. Diese Patienten sollten sich, wenn sie einen Arzt außerhalb der normalen Praxis-Sprechzeiten benötigen, an den Bereitschaftsdienst der niedergelassenen Ärzte wenden, der vor drei Jahren neu strukturiert wurde. Die niedergelassenen Ärzte sind im Bereitschaftsdienst nicht mehr in ihren eigenen Arztpraxen, sondern an den neu eröffneten zentralen Notallpraxen am Hegau-Bodensee-Klinikum Singen und am Klinikum Konstanz tätig. Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) hat die Bereitschaftsdienste deshalb zu größeren Einheiten zusammengefasst, weil es immer schwieriger wurde, Nachfolger für Arztpraxen im ländlichen Raum zu finden.

Hinzu kommen immer mehr Menschen, die mit Beschwerden sofort in die Notaufnahme einer Klinik gehen, auch wenn Arztpraxen geöffnet haben. Auffällig mehr junge Patienten seien darunter, bemerkt Oberarzt Thomas Münkle. Das könne zum einen damit zusammenhängen, dass viele gar keinen Hausarzt mehr hätten, sich durch die hohe Mobilität auch nicht mehr an einen Ort gebunden fühlten. Zum anderen spiele auch die Bequemlichkeit eine Rolle, viele Patienten würden nicht lange auf Termine bei Fachärzten warten wollen.

Der Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche am Hegau-Bodensee-Klinikum Singen, Andreas Trotter, kann diese Beobachtungen nur bestätigen. Vermehrt kämen Eltern mit ihren Kindern direkt in die Kinderklinik, obwohl diese keine Notfälle seien. "Durch die Betreuung dieser Patienten, deren primäre Anlaufstelle der Kinderarzt sein sollte, werden unsere Ärzte und Pflegekräfte sehr belastet", so der Chefarzt. Und nicht nur das, immer häufiger komme es vor, dass das Klinikpersonal von diesen Eltern angeschrien und beschimpft werde, weil diese länger warten müssten.

Wann wohin?

  • In die Notaufnahme des Krankenhauses bei Lebensgefahr. Dazu zählen u.a. Verdacht auf Herzinfarkt oder Schlaganfall, schwere Verletzungen, hoher Blutverlust, Vergiftungen, Schock mit starker Schwellung. Telefon 112
  • Zum Bereitschaftsdienst (Notfall-Praxis der niedergelassenen Ärzte) ohne Lebensgefahr. Hier liegt ein dringender Behandlungsbedarf außerhalb der normalen Sprechzeiten vor.
    Die Ärzte führen auch Hausbesuche durch. Hier geht es um Dinge wie beispielsweise grippaler Infekt mit anhaltendem Fieber, Magen-Darm-Virus mit Brechdurchfall, Hexenschuss, überdehnte Bänder, Mittelohrentzündung, Windpocken. Telefon 116 117
  • Für Kinder und Jugendliche gibt es im Landkreis Konstanz eine zentrale Notfallpraxis der niedergelassenen Ärzte, die am Klinikum in Singen angesiedelt ist. Telefon (0 18 06) 07 73 12

Patienten anKosten beteiligen

Johannes Fechner, stellvertretender Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) bemängelt, dass viele Patienten den Notfalldienst als erweiterte Sprechstunde nutzen. Dem soll ein Riegel mit einer Kostenbeteiligung vorgeschoben werden. Die KVBW vertritt über 20 000 niedergelassene Ärzte in Baden-Württemberg.

Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg fordert, dass sich Patienten an den Kosten beteiligen, wenn sie den Notfalldienst in Anspruch nehmen. Warum?

Warum nicht? Wenn jemand am Wochenende oder an den Feiertagen irgendeine andere Notfalldienst-Leistung in Anspruch nimmt, muss er sich an den Kosten beteiligen. Apotheken, Schlüsseldienst, die Liste ließe sich beliebig verlängern. Die Organisation des Bereitschaftsdienstes erfordert einen enorm hohen Aufwand und bedeutet für die Ärzte eine große Belastung.

Inwiefern haben sich die Zahlen der Patienten verändert, die die Notaufnahme aufsuchen?

Wir registrieren insgesamt leicht steigende Zahlen im ärztlichen Bereitschaftsdienst, eine starke Zunahme aber in den Notaufnahmen der Krankenhäuser während der Sprechstundenzeiten der niedergelassenen Ärzte.

Nutzen Patienten den Notfalldienst als erweiterte Sprechstunde? Aus Bequemlichkeit? Aus Unwissenheit?

Natürlich gibt es hier alles. Darunter auch viele Patienten, für die es bequemer ist, am Wochenende zu einem Arzt zu gehen. Oder auch Patienten, denen noch einfällt, dass ihnen vor der Urlaubsreise am Montag ein Medikament fehlt. Und natürlich viele Patienten, die tatsächlich aus medizinischen Gründen am Wochenende oder abends einen Arzt benötigen und nicht bis zum nächsten Morgen warten können.

Was hat das für Folgen?

Wenn viele Menschen den Notfalldienst aus Bequemlichkeit oder wegen Bagatellen in Anspruch nehmen, verlängern sie die Wartezeiten in den Notfallpraxen und den Notaufnahmen der Krankenhäuser und verursachen höhere Kosten. Gelder, die dann für die Grundversorgung der Patienten fehlen.

Soll sich dann jeder Patient, der den Notfalldienst in Anspruch nimmt, an den Kosten beteiligen oder nur die Patienten, bei denen kein Notfall vorlag?

Alle Patienten, die den Notfalldienst in Anspruch nehmen, sollten sich finanziell daran beteiligen. Es wäre viel zu kompliziert und aufwendig, hier zwischen wirklichen Notfällen und Bagatellfällen zu unterscheiden.

Zieht eine Kostenbeteiligung nicht einen enormen bürokratischen Aufwand nach sich?

Wir könnten die Gebühr sicherlich so gestalten, dass wir den bürokratischen Aufwand in Grenzen halten.

Könnte man sich auch vorstellen, eine Art Praxisgebühr für die Notfalldienste einzurichten? Das würde eventuell den einen oder anderen abschrecken, unberechtigt die Notfalldienste in Anspruch zu nehmen.

Das wäre in der Tat so eine Praxisgebühr im Notfalldienst.

Fragen: Simone Ise