Es existieren viele überzogene und verzerrte Ideen darüber, wie es in einer Psychiatrie aussieht oder wie der Alltag dort ist. In Filmen sind die Einrichtungen gern Horrorkulisse, in den Köpfen Außenstehender Symbol für Wahnsinn und Ausgrenzung.
Dabei sind moderne Einrichtungen wie das Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Reichenau längst offene Kliniken jenseits von Zwangsjacken und Gummizellen, die versuchen, Vorurteile abzubauen. Sie wollen jenen Menschen sichere Räume bieten, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht mehr für sich selbst sorgen können.
Und das gelingt auch meistens – aber nicht immer. Denn es gibt ein Tabu, das viele Psychiatrien betrifft, auch das ZfP. Immer wieder kommt es zu Grenzverletzungen und sexuellen Übergriffen gegenüber Patientinnen und Pflegerinnen, wie zwei aktuelle Fälle zeigen.
I. Der Albtraum
Nadine Wagner wird wegen ihrer Psychose stationär im ZfP behandelt. Sie heißt in Wahrheit anders – ihr richtiger Name wird in diesem Artikel nicht stehen. Denn das, was sie erzählt, ist sehr intim. Aber damit an die Öffentlichkeit zu gehen, ist ihr wichtig. Sie will das Tabu brechen. "Weil ich sicher nicht die Einzige bin, der so was passiert ist". Und weil sie helfen wolle, dass das, was sich in jener Nacht abspielte, nicht noch einmal passiert.
Nadine Wagner teilte sich damals das Zimmer mit einer anderen Patientin. An jenem Abend habe sie mal wieder nicht schlafen können, und um Baldrian gebeten. Bekommen habe sie Beruhigungsmittel in Tröpfchenform. Was genau es war, wisse sie nicht.
In der Nacht hat sie einen Albtraum. Ein großer, stämmiger Mann liegt auf ihr, küsst sie, penetriert sie mit dem Penis oder der Hand oder irgendwie anders, obwohl sie das alles nicht will. Der Traum ist sehr realistisch, sie will die Augen aufmachen, schafft es aber nicht, die Tröpfchen wirken zu sehr. Am nächsten Morgen erzählt sie ihrer Zimmernachbarin von dem Traum. „Das hast Du nicht geträumt, das war real“, habe sie daraufhin geantwortet. Als Nadine Wagner auf die Toilette geht, habe sie Blut gesehen, ihr Unterleib habe geschmerzt.
„Wäre ich nicht wach geworden, wäre ihr Schlimmeres passiert", berichtet die Zimmernachbarin. Denn trotz ihrer Trance habe Nadine Wagner versucht, sich zu wehren und sei entsprechend laut gewesen. Die Zeugin sieht, wie das Unterhemd des Mannes um seine Hüfte baumelt, er habe an ihrer Bettdecke gezogen, sie ihm mit dem Kissen gegen den Kopf geschlagen. Daraufhin sei der mutmaßliche Täter, ein Mitpatient, aus dem Zimmer geflüchtet.
Als eine Art Geständnis wertet die Zeugin die erste Begegnung mit dem mutmaßlichen Täter am Morgen nach dem Vorfall. Auf die Situation angesprochen, habe er gesagt: „Wieso, Du hast es doch auch wollen.“ Insgesamt drei Personen hätten diese Aussage mitbekommen. Den gesamten Tag über habe es gebraucht, bis die Polizei in das Psychiatriezentrum gekommen sei. Sie habe sich sehr dafür eingesetzt, sagt die Zeugin. Anschließend sei der vermeintliche Täter nachts isoliert worden.
Zu dem konkreten Fall darf Oberarzt Roman Knorr aufgrund seiner ärztlichen Schweigepflicht keine Auskunft geben. Dass es in Psychiatrien zu Grenzverletzungen und sexuellen Übergriffen kommt, verneint er nicht. Seit acht Jahren sei er im Zentrum für Psychiatrie. In diesen acht Jahren habe es drei Fälle im Bereich des sexuellen Übergriffs gegeben. "Das sind drei zu viel, aber doch vergleichsweise wenig", so Knorr. Ein Vorwurf hatte sich damals erhärtet, der Täter wurde verurteilt.
Nadine Wagner sei später zur gynäkologischen Untersuchung gebracht worden. Konkrete Hinweise auf eine Vergewaltigung habe die Frauenärztin nicht feststellen können, "war ja auch schon zu spät", sagt Wagner.
"Bei einem Vorkommnis wird wie bei jedem Übergriff in der Gesellschaft verfahren, das Opfer wird geschützt durch Verlegung des vermutlichen Täters auf eine andere Station, es folgt eine gynäkologische Untersuchung zur Sicherstellung von Beweisen und eine strafrechtliche Anzeige mit unserer Unterstützung und Begleitung", heißt es von Seiten des ZfP.
Nadine Wagner wirft das Erlebnis vor allem psychisch zurück. "Ich war fertig mit den Nerven, habe mit der Faust gegen die Wand geschlagen, wollte einfach nur weg", sagt sie. Einige Tage später sei sie entlassen worden. Bei der Polizei hatte sie zu diesem Zeitpunkt bereits Anzeige gegen den Mitpatienten erstattet.
Bis in die 1960er Jahre hinein gab es in Psychiatrien getrennte Frauen- und Männerstationen. Heute ist das in den wenigsten Häusern der Fall. Zu einer modernen Psychiatrie gehört auch, dass Männer und Frauen nicht gemeinsam in den Zimmern, aber auf einer Station zusammenleben. Weil die Stimmung dann insgesamt weniger aggressiv sei und die realen Lebensbedingungen auch besser abgebildet seien, sagen Experten. Doch diese Mischung beinhaltet immer auch die Gefahr von sexuellen Übergriffen.
Aufgrund der akuten Krankheit ist die Wahrnehmung der Patienten oft verzerrt und die Impulskontrolle herabgesetzt. "Sexuelle Enthemmung" heißt das im Fachjargon. Gleichzeitig haben viele der kranken Frauen oft schon in der Kindheit sexuelle Gewalt erlebt und befinden sich in einem Zustand höchster psychischer Verletzlichkeit. Dass und ob Männer in Zimmer von Frauen gehen, behauptet die Zeugin und Zimmernachbarin von Nadine Wagner, darauf werde nicht geachtet im ZfP.
Einen absoluten Schutz vor sexuellen Übergriffen könne es wie in der Gesellschaft nie geben, merkt Oberarzt Roman Knorr allgemein an. Aber in Einzelfällen könne auch eine 1:1-Betreuung von Patienten oder Patientinnen angeordnet werden. Die Betreuungsintensitäten können variiert werden, von einer viertelstündlichen bis zu einer einstündlichen Sichtkontrolle. Standard seien auch nachts die Sichtkontrollen der Zimmer alle zwei Stunden.
Insgesamt sei sie sehr gut klargekommen mit allem im ZfP, sagt Nadine Wagner. Auch die Pflegerinnen seien immer sehr nett gewesen. Aber es gebe zu wenig Personal auf den Stationen, um die Patientinnen vor sexuellen Übergriffen durch Mitpatienten zu schützen – und sich selbst. Darum geht es in Teil zwei dieser Geschichte.
II. Vor Gericht
Dass auch Pflegerinnen unter den Opfern sexueller Übergriffe männlicher Patienten sind, zeigt ein Fall, der jüngst vor dem Amtsgericht Konstanz verhandelt wurde.
Auf der Anklagebank sitzt ein 25-Jähriger Student wegen sexueller Nötigung einer Pflegerin auf der Station 31, die geschlossene allgemeinpsychiatrische Aufnahmestation. Der Polizist, der die Anzeige des Opfers aufnahm, gibt vor Gericht zu Protokoll, dass die Polizei "öfter solche Anzeigen" aus dem ZfP erhalte." Eine Pflegerin bestätigt: "Das kommt regelmäßig vor. Ein bis zweimal pro Woche vielleicht. Aber nicht jeder Vorfall wird angezeigt."
Der Student, der sich selbst aufgrund psychischer Probleme einweisen ließ, rief am späten Abend eine Pflegerin an sein Bett und fragte nach frischer Bettwäsche, da er stark schwitzte. Wenige Stunden später bat er um eine Zigarette. Die Pflegerin forderte den jungen Mann auf, sie in den Raucheraum zu begleiten – für solche Fälle liegt auf Station 41, die nicht geschlossen ist, stets ein Päckchen parat.
Im Raucherzimmer wollte der Patient die Pflegerin küssen und umarmen. Dabei zog er sie an sich heran. Als sie zu Boden gingen, fasste er der Frau unter den BH auf die Brust. Die Pflegerin konnte den Alarmknopf betätigen – als eine zweite Pflegerin hinzukam und laut "hey" rief, ließ der Mann von der Frau ab.
Vor Gericht bat der Student sein Opfer um Verzeihung. Die Frau leidet bis heute psychisch unter den Folgen des sexuellen Nötigung. Richterin Heike Willenberg folgte der Analyse des Sachverständigen, nach der der Täter unter einer schizophrene Psychose leidet und daher nicht voll straffähig ist.
"Doch die sexuelle Nötigung und die Körperverletzung haben Sie begangen", sagt sie zum Angeklagten. "Wir müssen die besonderen Umstände berücksichtigen. Aber eben auch, dass sie dem Opfer Leid zugefügt haben."
Sie verurteilte den Studenten zu 80 Tagessätzen á 15 Euro, ausgesetzt auf zwei Jahre Bewährung, sowie zur Zahlung eines Schmerzensgeldes an die Pflegekraft in Höhe von 600 Euro. "Beweisen Sie uns, dass die Tat ein Einzelfall war", sagt Heike Willenberg.