Herr Rinninsland, Sie sind Konrektor und Sonderschullehrer an der Krankenhausschule im Hegau-Jugendwerk. Darüber hinaus haben Sie in Wort, Schrift und in der Kunst unglaublich viele Dinge auf den Weg gebracht. Was treibt Sie an, sich auf so unterschiedliche Weise zu engagieren?

Eine gute Frage. Letztendlich mache ich das, was mich schon immer interessiert hat, was mein Hobby ist, meine Passion. Ich habe 33 Jahre lang meine Freizeit und das Hegau-Jugendwerk nicht trennen können und das Glück gehabt, Vorgesetzte und eine Einrichtung zu haben, die mich mein Hobby zum Beruf machen ließen. Diese seltene Fügung ist wohl für beide Seiten eine Win-Win-Situation, ja fast eine Liebesbeziehung. Ich habe hier nicht nur meine Frau kennengelernt, sondern auch tolle und neugierige Menschen. Selten hieß es, wenn wir eine Idee hatten: „Ach, das sollten wir machen“; sondern meistens: „Ja, das machen wir!“. Und es entstand eine inspirierende Energie, die die Lust auf Leben widerspiegelt – sowohl im Kollegen-Team, wie auch bei unseren jungen Patienten.

Das Hegau-Jugendwerk ist eine Rehabilitation-Einrichtung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nach einer neurologischen Erkrankung oder Verletzung. Ist es bei der Therapie das Ziel, durch die Kreativität die Krankheit als Chance zu erkennen?

Unterm Strich ja. Ereignisse wie Krankheit, Scheidung oder Flutkatastrophe sind immer furchtbare Erfahrungen, aber eben auch die Chance auf eine Neuorientierung. Wir arbeiten darauf hin, dass unsere Rehabilitanden die Krankheit in ihre Biografie integrieren können und motivieren sie, ihr vorhandenes Potenzial und Chancen auszubauen und nach vorn zu schauen.

Ein Motivationsgedanke steckt auch in der Patz, der Patientenzeitung, deren 100. Ausgabe im September gefeiert wurde.

Richtig, der Ursprungsgedanke für die Patz war, über das Schaffen einer internen Öffentlichkeit die Motivation bei den Autoren aufzubauen. Damit ist die Patz wohl die einzige Zeitung, die sich ausschließlich an den Interessen der Schreiber und nicht an den Leserinnen und Lesern orientiert.

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Können Sie das näher erläutern?

Motivation ergibt sich aus sozialem Feedback. Wenn beispielsweise ein Patient einen rehabilitativen Fortschritt gemacht hat, darüber schreibt, dies gedruckt wird und er sieht, wie das andere lesen, dann erfährt er eine wesentlich höhere Wertschätzung, als wenn Eltern oder Lehrer ihn dafür loben, denn die loben ja immer. Diese Anerkennung kommt nicht an, sie ist verdächtig. Hingegen ist Lob von unerwarteter Seite glaubhaft und deshalb besonders motivierend. Daher sehen wir die Patz als ein erfolgreiches Therapeutikum.

Sie haben am Hegau Jugendwerk „die junge Galerie“ mit ins Leben gerufen. Welches Konzept steckt dahinter?

Mit der jungen Galerie wollen wir Künstler und Künstlerinnen in der Region fördern, die keine Lobby haben, und Ihnen die Möglichkeit bieten, sich ohne finanziellen Einsatz zu präsentieren. Sie liefern ihre Kunst, wir bieten die Möglichkeit der Ausstellung und übernehmen die Organisation. Für das Jugendwerk ist das einerseits ein Image-Faktor, andererseits ein Beitrag zur Inklusion. Wenn Leute hier sonntags in der Cafeteria ein Stück Torte essen und dabei die Ausstellung besuchen, vereinen wir zwei Welten und bauen Brücken. Vor allem aber wollen wir mit den Werken unseren Patienten Denkanstöße bieten.

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Inwiefern?

Für unsere Patienten sind die Bilder quasi expressive Kunsttherapie. Schon im Mittelalter wurde das Betrachten sakraler Kunst als heilend eingeschätzt. Jedes Kunstwerk gibt Impulse – für jeden Menschen aufgrund seiner Sicht und Situation, in der er sich befindet, unterschiedliche. Daher findet man auch in den meisten Krankenzimmern Bilder von Miro oder Klee, die Freiraum zur Interpretation lassen. Vor Jahren hat die Kunsttherapeutin Christine Grimm Künstler und Gruppen gebeten, Deckenbilder für die Singener Kinderklinik zu entwerfen. Darauf haben wir mit Patienten dann Gegensatzpaare gestaltet, wie zum Beispiel Sommer und Winter oder ein Ferrari und Trabi. Ein Kranker, der im Bett liegt und die Augen aufschlägt, hat so die Möglichkeit, beide Extreme zu betrachten, sich aufgrund seiner aktuellen Situation zu positionieren und Perspektiven zu erkennen. Das ist therapeutisch. Die Bilder unserer jungen Galerie hängen nicht in den Patientenzimmern, können jedoch in der Ausstellung aufgesucht werden. Auf diese Weise können sich unsere Patienten aktiv einem Bild und seinen Impulsen stellen.

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Für eine andere Zielgruppe gibt es die Malinsel.

Ja, hier geht es darum, sich selbst zu begegnen. Die Malinsel fußt auf dem kunsttherapeutischen Konzept des sogenannten begleiteten Malens. Es ist ein Angebot im geschützten Raum, auch für Mitarbeiter und Angehörige. Das Konzept geht von der Annahme aus, dass es ein menschliches Grundbedürfnis ist, Bilder zu produzieren. Wir kennen das von den Kindern, die ganz spontan malen. Jedes Kind malt die Welt so, wie es die Wirklichkeit verstanden hat, und nicht so, wie sie ist. Kinder gewähren dabei intime Einblicke in ihre Seele. Und dann kommt unsere Kultur mit ihrem Leistungsanspruch und es heißt: „Gib dir mal Mühe, so steht kein Schornstein auf dem Dach“ oder „Kunst kommt von Können“. Durch die Belehrungen ist die Chance auf Weiterentwicklung vertan.

Welche Rückmeldung bekommen Sie von Malenden in diesem Angebot?

Obwohl in einer Gruppe gemalt wird, ist es sehr still und jeder in seinem Prozess, ganz bei sich und seinem Bild. Wie Kinder sich im Spiel erproben und damit langsam zu sich selbst finden, so ist auch das begleitete Malen ein Spiel mit Formen und Farben, welches die Selbstfindung fördert. Hier malt jeder für sich, ohne den Anspruch etwas Schönes oder Gelungenes zu schaffen. Wir haben Fünfzigjährige, die sagen: „Ich kann das nicht“ und sie wundern sich, was dann für ein Bild entsteht. Manche malen wie ein Kind, können aber dort anknüpfen, wo sie in der Kindheit aufgehört haben zu malen. Und sie haben die Chance, sich weiterzuentwickeln. Es geht um eine Reise, sich einmal für zwei Stunden mit sich selbst zu beschäftigen und dabei Seelenbilder entstehen zu lassen.

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Das Hegau-Jugendwerk wird 50 Jahre alt. Für eine Chronik haben Sie nicht nur das Konzept dargelegt, sondern auch Beiträge gesammelt, geschrieben und als Buch veröffentlicht. Am 1. Juli gehen Sie in den Ruhestand. Lassen Sie mit diesem Buch noch einmal die Zeit Revue passieren?

Ja! Natürlich haben meine 33 Jahre im Hegau-Jugendwerk eine große Rolle dabei gespielt! Wichtig war aber, dass ich in der Chronik unsere Arbeit darstellen konnte, wie sie war und wie sie heute ist, also unser Angebot in seiner Breite und Einzigartigkeit. Die Therapie im Wandel der Zeit, der Blick nach vorn. Wir würdigen Menschen, die Pionierarbeit geleistet und sich mit Energie für das Hegau-Jugendwerk eingesetzt haben. Und es gibt einen Perspektivenwechsel, indem Patienten mit Texten, Bildern und ihren Projekten Erfahrungen geschildert haben. Das Buch zeigt, dass für diese Menschen die Reha ein Ort ist, an dem sie auf Zeit zuhause sind, ihre Sorgen, ihre Themen, ihre Emotionen und ihr Geist sind spürbar. Schön dabei war, von allen Seiten Rückenwind zu erfahren. Nach drei Jahren Arbeit ist ein Werk von 384 Seiten entstanden.

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Möchten Sie mit einem Satz ihre Arbeit im Hegau-Jugendwerk beschreiben?

Das ist schnell gesagt: Das Jugendwerk ist und war mein Leben, meine Passion!