Nachdem der Westen und Osten Deutschlands zusammengewachsen sind, gab es in Tengen und den Stadtteilen bei Bundes- und Landtagswahlen noch tiefschwarze, CDU-geprägte Ergebnisse. Die aus dem Osten enstandene Linke-Partei war am Randen noch ein eher unbeschriebenes Blatt, stand aber für den ungeliebten, gescheiterten Kommunismus. "Hätte ich im Jahr 1990 gesagt, dass mich die Tengener zum Schätzele-Markt einladen, wäre mir dringend geraten worden, mich in eine geschlossene psychiatrische Anstalt einliefern zu lassen. Und glauben Sie mir, das hätte ich auch getan", mit diesem Pakenschlag als Schlusswort verleitete der Linke-Politiker Gregor Gysi bei der Mittelstandskundgebung des Schätzele-Marktes dazu, dass ihm gut 2000 Besucher im Festzelt langen und lautstarken Beifall zollten. Gysi setzte zuvor eine Vielzahl markiger Sprüche, mit denen er aber auch seine Haltung zum politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Geschehen zum Ausdruck brachte. Dabei schlug er geschickt den Bogen von weltweiten Aufreger-Themen bis zu den kleinbürgerlichen Belangen.
Der Tengener Bürgermeister Marian Schreier sorgte mit seinen ebenfalls spitzfindigen Ausführungen dafür, dass die Besucher richtig in Fahrt kamen, nachdem sie geduldig, aber bestens gelaunt eine gute Dreiviertelstunde auf den verspäteten Hauptredner gewartet hatten. Der Mann war auf dem Weg von Hamburg nach Tengen im Verkehr stecken geblieben. "Gregor Gysi ist der wohl am besten vorbereitete Schätzele-Markt-Redner. Als ausgebildeter Facharbeiter für Rinderzucht ist er es seit vielen Jahren auch in der Politik gewöhnt, mit Hornochsen und Rindviechern umzugehen", erklärte Schreier und ließ das Stimmungspegel von Null auf Hundert hochschnellen.
"Bei der jüngsten Landtagswahl stimmten 27 Tengener für Ihre Partei. Sie können sicher sein, dass die alle hier im Festzelt sind", so Schreier in Richtung Gysi. Er fand aber auch kritische und nachdenkliche Worte, die vor allem die etablierten Parteien bedachten. "Die Gesellschaft wandelt sich. Es gibt Veränderungen und auch Fortschritte. Die demokratisch organisierte Politik kann dabei aber nicht Schritt halten", so Schreier.
Er lobte vor allem das große ehrenamtliche bürgerliche Engagement, das er in seiner Stadt feststelle. "Unsere Vereine zeigen das tagtäglich. Auch beim Schätzele-Markt, bei dem über 300 Helfer im Einsatz sind." Schreier nannte beispielgebend die Stadtkapelle und den Gewerbeverein, die zusammen mit anderen Vereinen und der Stadt Tengen die Riesenveranstaltung jedes Jahrs aufs Neue bewältigten. "Ein solches Fest stemmen normalerweise nur noch kommerzielle Veranstalter", strich Schreier heraus.
"Es ist für mich immer ein demütiger Akt, wenn ich das Mikrofon zu mir hinunterziehen muss", bekannte Gregor Gysi zum Auftakt seiner Rede, indem er auf seine etwas gering geratene Körpergröße anspielte. Und er setzte zum Entzücken des Publikums noch einen drauf. "Ich freue mich besonders, dass ich heute die frühere FDP-Bundestagsabgeordnete Birgit Homburger sehe. Jedesmal wenn ich im Parlament nach ihr das Wort erhielt, war es stets das einzige Mal, dass ich das Rednerpult wieder erhöhen konnte. Außerdem hat es großen Spaß gemacht, kultiviert mit ihr zu streiten", bekannte er. "Mein früherer Beruf hat mir geholfen, auch in der Politik erfolgreich zu agieren. Das Melken habe ich gelernt, da lässt es sich viel besser Steuer eintreiben", sagte Gysi.
Dann wurde aber auch er ernst: Mit drastischen Zahlenvergleichen verwies er auf das krasse weltweite Missverhältnis zwischen Arm und Reich. "Die Afrikaner wissen durch Handys im Gegensatz zu früher Bescheid. Und sie stellen Fragen, die nicht beantwortet werden. Die Lieferung von Billig-Nahrung verhindert, dass die Menschen in Afrika eine eigene Versorgung aufbauen können", wetterte Gysi, um dann vor allem die weltweiten kriegerischen Auseinandersetzungen aufs Korn zu nehmen. Es werde bei der Verletzung von Menschen- und Völkerrechten mit zweierlei Maß gemessen. "Während Russland für den Krim-Übergriff heftige EU-Sanktionen auferlegt wurden, macht Amerika im Irak-Krieg dieselben Vergehen. Wer aber kommt schon die Idee, auch diese Großmacht zu belangen", stellte er fest und warb um kompromissbereite Annäherungen der verschiedenen Positionen von West und Ost, um die Kriegsherde einzudämmen. "Wir müssen die Ursachen bekämpfen, warum so viele Flüchtlinge zu uns kommen." Eine von der Bundesregierung geforderte Aufnahmequote habe die EU mit ausgestrecktem Mittelfinger abgelehnt. Dieselbe Forderung sei zu einem früheren Stadium durch Deutschland selbst in den Wind geschrieben worden.
"Die Amerikaner können sich zwischen Pest und Cholera entscheiden. Dann schon lieber Frau Obama als Präsidentin", blickte Gysi auf die bevorstehenden US-Wahlen. Auch für das eigene Land hatte er eine Pointe bereit. "Die Bundesregierung hat zu vielen wichtigen Themen ein sexuell erotisches Verhältnis. Das sage ich ihr immer wieder", erklärte Gysi. Um sich dann forsch ans Publikum zu wenden. "Sollten Sie schon mal Sex gehabt haben, dann wissen Sie: In diesem Moment waren Sie nicht für Logik zugänglich." Das saß.
Gysi übte Kritik an der EU, vor allem in Sachen Transparenz, Bürokratie und ökologischer Nachhaltigkeit. Südlichen Ländern, wie Griechenland, dürften nicht noch mehr Bürden auferlegt werden, sondern sie müssten mehr Unterstützung für wirtschaftliche Bedingungen erhalten. Andernfalls könnten auch keine Kredite mehr zurückbezahlt werden. Dennoch plädierte Gysi für eine Rettung der EU. Noch nie habe es unter den Mitgliedsländern Kriege gegeben, im Gegensatz dazu, bevor das Bündnis geschlossen worden sei. "Ohne EU spielt Deutschland weltpolitisch und wirtschaftlich keine Rolle. Und die jungen Leute denken europäisch", betonte er.
"Es gibt eine neue Altersarmut. Wenn ich noch mit 90 im Bundestag rumdödele, merkt das niemand. Aber, wenn ein Bauarbeiter mit 70 noch arbeiten muss, kann das nicht angehen." Der Mittelstand dürfe nicht von den Sozialleistungen abgeschnitten werden, sondern sollte auch in den Genuss von Rentenzahlungen kommen. Und es sei ein Unding, wenn jemand, der seine Firma aufgeben müsse, gleich danach zu einem Hartz-IV-Empfänger werde. Die Großbanken bekamen ebenfalls ihr Fett weg. Sie seien längst nicht mehr die Partner von Betrieben, sondern verhinderten mit strengen finanziellen Richtlinien die Investitionsmöglichkeiten.
Gysi gelang es immer wieder, ganz volkstümliche Themen einzustreuen und brach dabei eine Lanze für die Bedürfnisse der Frauen. "Wie hier auf dem Schätzele-Markt gibt es immer gleichviele Klos für Frauen und Männer. Dabei stehen die Damen Schlange, die Herren aber nicht. Dieser Zustand muss sich deutschlandweit in allen öffentlichen Gebäuden ändern. Die Forderung nach mehr Toiletten für Frauen werde ich nun von Tengen aus durch das ganze Land tragen", versprach Gysi, der mit spitzer Zunge, einen großen Unterhaltungswert in das Tengener Festzelt brachte.