Die SPD befindet sich bei den Umfragewerten bundesweit im Sinkflug, doch dass sie die falschen thematischen Schwerpunkte setzt – nein, diese Kritik lässt sich nur schwerlich aufrecht erhalten. Zum Beispiel wenn es um die jüngst vom Kanzlerkandidaten Martin Schulz angestoßene Debatte um eine Reform des Rentensystems geht oder um die Frage, ob Menschen mit geringfügiger beruflicher Qualifikation angesichts der sich ausbreitenden Digitalisierung künftig noch Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
Wie nah diese Themen im Vorfeld der Bundestagswahl an der Lebenswirklichkeit in Singen und dem Hegau sind, verdeutlicht eine Befragung der IG Metall, bei der es genau um besagten Themenkomplex ging. Mehr als 680 000 Beschäftigte aus rund 7000 Betrieben haben sich nach Angaben der Gewerkschaft bundesweit daran beteiligt. Im Bereich der Geschäftsstelle Singen waren es 2558 Beschäftigte aus 31 Betrieben – ein prozentual mehr als beachtlicher Anteil.
Zwei Ergebnisse charakterisieren die Befragung: Erstens gibt es nur geringfügige Abweichungen bei den Bewertungen der befragten Mitarbeiter in Singen/Hegau und jenen im Rest der Republik. Zweitens sind die Aufgabenstellungen der Arbeitnehmer an die Berliner Politik eine echte Herausforderung. Aus der Mitteilung der Gewerkschaft geht hervor, dass es für den Weg in die als "Industrie 4.0" bezeichnete neue Arbeitswelt eine satte Mehrheit gibt. 93 Prozent (sowohl bundesweit als auch in Singen/Hegau) zeigen sich demnach offen für die epochale Umstrukturierung der Wirtschaft – allerdings will man sie mitgestalten. Und eben hier liegt die Crux: Auf Sicherheiten soll nicht verzichtet werden, gerecht habe es zuzugehen und nicht zuletzt müssten alle Beschäftigten mitgenommen werden – unabhängig von deren Qualifikation.
Eine Revolution des Arbeitsalltags bei gleichzeitiger Bewahrung von Sicherheiten – kann das funktionieren? Enzo Savarino, Erster Bevollmächtigter der IG Metall im Bereich Singen, konkretisiert mit Bezug auf die Befragung die Forderung der Arbeitnehmer an die Politik: „96 Prozent der Befragten bundesweit und 97 Prozent in der Geschäftsstelle Singen wollen auch in Zukunft ein Arbeitszeitgesetz, das der Arbeitszeit Grenzen setzt. Dazu gehört das Recht auf gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeiten“, so wird er in der Pressemitteilung der Gewerkschaft zu der Befragung zitiert.

Damit die Umgestaltung der Arbeitswelt gerecht und in sozialem Frieden vonstattten gehen kann, sollen Politik und Tarifpartner für Chancengleichheit sorgen. Je schwächer die Position der Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt sei, umso größer seien die Sorgen um den Arbeitsplatz. Laut IG Metall fordern deshalb 86 Prozent der Befragten in der Geschäftsstelle Singen (89 Prozent bundesweit) die "Abschaffung sachgrundloser Befristung von Minijobs und prekärer Solo-Selbstständigkeit". Um in der Arbeitswelt 4.0 mithalten zu können, seien bessere Chancen auf Qualifikation für alle Beschäftigten zwingend erforderlich. "Sichere Jobs und Bildung sind die Schlüssel zu guter Arbeit 4.0. Denn nur wer keine Angst um die Zukunft haben muss, kann gut und kreativ arbeiten", so wird Raoul Ulbrich, Zweiter Bevollmächtigter und Kassierer der IG Metall Singen, zitiert.
Die Aussage ist zugleich vor dem Hintergrund zu werten, dass 94 Prozent der Befragten im Bereich Singen (93 Prozent bundesweit) eine Bildungspolitik verlangen, die Bildungschancen unabhängig von der sozialen Herkunft eröffnet und ein verbrieftes Recht auf betriebliche Weiterbildung garantiert. "Viele sind heute von einer fairen Chance auf Fortbildung im Berufsleben ausgeschlossen. Ein Initiativrecht für Betriebsräte zur Durchführung von Qualifizierungsmaßnahmen ist überfällig. Die nächste Bundesregierung muss hier endlich handeln", so Raoul Ulbrich.
Kritisch zu bewerten seien zudem die noch offenen Baustellen der großen Koalition. „So fordern 88 Prozent der Beschäftigten in der Region (bundesweit 90 Prozent) ein gesetzliches Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit“, sagt Enzo Savarino. Aus der Befragung geht außerdem hervor, dass die Befragten (rund 95 Prozent) es für falsch halten, dass die Arbeitnehmer höhere Beiträge zur Krankenversicherung zahlen als die Arbeitgeber. Weiter fordern die Beschäftigten ein höheres Rentenniveau (85 Prozent bundesweit/84 Prozent im Bereich Singen) und eine Verpflichtung der Arbeitgeber zur betrieblichen Altersvorsorge für alle Beschäftigten (93 Prozent sowohl bundesweit als auch im Berich Singen).

Zur Serie
Anlass für die Serie "Hallo Berlin" ist die Bundestagswahl im September. Dabei werden zwei Perspektiven angenommen: Wie bestimmt die Bundespolitik die Lebenswirklichkeit im Hegau und – umgekehrt – welche Erwartungen haben die Menschen in der Region an die Politik. Basis für den heutigen Serienbeitrag bildet eine jüngst vorgenommene Befragung der IG Metall bei ihren Mitgliedern, ob sie den Umbau der Wirtschaft zur Digitalisierung mittragen und welche Forderungen sich daraus für sie ergeben. (tol)