Geht es um die aktuelle Corona-Situation, wandert der Blick häufig sofort zu den Intensivstationen in den Krankenhäusern: Sind sie überfüllt? Ist das Pflegepersonal am Limit? Wie schlecht geht es Menschen, die künstlich beatmet werden müssen? Doch nicht nur in den Intensivstationen ist die Lage ernst. Auch auf den „Corona-Normalstationen“, deren Name so harmlos klingt, gibt es schwere Verläufe und Personal hat alle Hände voll zu tun.

Nur noch zwei Plätze auf der Normalstation frei

Im Radolfzeller Krankenhaus gibt es drei Corona-Normalstationen, eine davon ist erst vor zwei Wochen speziell für ältere Patienten eingerichtet worden, wie Chefarzt Sebastian Jung berichtet. Dafür musste das Diabetes-Zentrum aufwendig ein Stockwerk nach oben verlegt werden. Nun werden alle Corona-Patienten auf einer Ebene behandelt. Pro Normalstation gibt es sieben Plätze. Stand Donnerstag waren von 21 Plätzen noch zwei frei. Seit Beginn der Pandemie seien 450 Covid-Patienten auf den Normalstationen in Radolfzell betreut worden, berichtet der Chefarzt.

Das Krankenhaus in Radolfzell. Derzeit gibt es dort drei Normalstationen.
Das Krankenhaus in Radolfzell. Derzeit gibt es dort drei Normalstationen. | Bild: Marinovic, Laura

Im Gegensatz zu den Intensivstationen werden auf den Normalstationen keine Patienten beatmet, sie erhalten aber eine „High-Flow-Sauerstofftherapie“, ihre Atmung wird mit einem Sauerstoffgasgemisch unterstützt. Entweder wird aufgrund des Zustandes eines Patienten auf eine Intensivtherapie verzichtet oder weil es etwa eine Patientenverfügung gibt, in der Betroffene eine Behandlung auf der Intensivstation ablehnen.

Das heißt nicht, dass Patienten nicht mit großen gesundheitlichen Problemen auf der Normalstation zu kämpfen hätten – und im schlimmsten Fall sogar sterben. Nazmiye Sengül, Stationsleiterin von zwei der Normalstationen, erinnert sich an einen Tag in der dritten Welle: „An dem Tag sind acht Patienten verstorben“, sagt sie. Innerhalb von zwei Schichten. „Das war eine der schlimmsten Situationen, die wir hatten.“

Mehr Jüngere im Krankenhaus

Die Situation auf der Normalstation in Radolfzell ist laut Sebastian Jung unterschiedlich: „Es gibt Phasen.“ Wenn mehrere Menschen sich gleichzeitig anstecken und sich ihr Gesundheitszustand gleichzeitig verschlechtere, sei die Situation sehr belastend. Dagegen vergehen auch Tage, „an denen niemand stirbt“. Auch das rückt der Chefarzt ins Verhältnis: Es seien deutlich mehr Patienten wieder entlassen worden, als an Covid-19 Erkrankte gestorben seien. Dennoch ist sein Fazit traurig: „Es sterben im Schnitt mehr Menschen als bei anderen Erkrankungen.“

Momentan sei man von der Belastung in den Normalstationen etwa in der gleichen Situation wie zum Höhepunkt der dritten Welle. Aber: In der Regel vergehen laut Chefarzt Jung nach einer Infektion etwa ein bis zwei Wochen, bis die Menschen erkranken, dann dauere es noch einmal ein bis zwei Wochen, bis die Schwere der Krankheit ihren Höhepunkt erreiche. Wenn man bedenke, wie hoch die Infektionszahlen aktuell seien, müsse man also davon ausgehen, dass die Lage sich verschärfe. „Wirklich vorhersagen kann man es nicht“, sagt er. „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

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Was das Alter der Patienten auf den Normalstationen in Radolfzell angeht, zeige sich derzeit „ein Mischbild“, so Chefarzt Jung. „Wir haben deutlich mehr Jüngere als früher. Aber die Älteren sind die empfindlicheren Patienten.“ Dennoch seien im Landkreis Konstanz in Kinderkliniken schon Kleinkinder an Corona gestorben. Für Jung ist diese Diagnose auffällig: „Die kritisch kranken Patienten sind zum Großteil nicht geimpfte Personen.“

„So krank möchte ich nicht werden“

Stationsleiterin Nazmiye Sengül ist wie die anderen Pflegekräfte auf der Normalstation geimpft. Ihr eindringlicher Appell lautet: „Bitte impfen lassen!“ Als Krankenschwester bemerke sie die Unterschiede zwischen Geimpften und Ungeimpften. Ungeimpfte bräuchten im Krankenhaus eine höhere Sauerstoffzufuhr als Geimpfte. „Wir sehen das, das ist unser Alltag.“ Die Stationsleiterin ist mit viel Leid konfrontiert: „Je mehr wir Patienten mit Corona versorgt haben, desto mehr ist mir bewusst geworden, so krank möchte ich nicht werden.“ Nazmiye Sengül ist sich sicher: „So will keiner sterben.“ Es gebe durchaus auch Patienten, die es bereuten, nicht geimpft worden zu sein.

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Mit welchen Symptomen Corona-Patienten im Radolfzeller Krankenhaus zu kämpfen haben, schildert Chefarzt Jung. „Die Atemnot ist zumindest bei der Deltavariante das führende Symptom.“ Das Virus schlage auf die Lunge, „mit schwerster beidseitiger Lungenentzündung“, beschreibt der Chefarzt die Diagnosen. Aber nicht nur akut Infizierte leiden. „Es gibt eine große Gruppe an Patienten, die Long-Covid haben.“ Bei denen hinterlasse das Virus bleibende Schäden. Es seien viele Patienten genau wegen dieser Langzeitschäden im Krankenhaus behandelt worden. „Diese Schäden bleiben in vielen Fällen und können sich noch verstärken“, beobachtet der Chefarzt. Diese Patienten litten an Luftnot, der Herzmuskel sei schwächer, die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit nehme ab.

Zwei Pfleger für sieben Patienten

Um den Gesundheitszustand der Patienten auf der Normalstation im Auge zu behalten, schauen die Pflegekräfte alle ein bis zwei Stunden nach ihnen. Immer wird die Atemfrequenz kontrolliert. Nazmiye Sengül benennt die Probleme bei dieser Pflege: „Wir dürfen nicht länger als eine Viertelstunde bei einem Patienten sein.“ Viele Patienten fühlten sich sehr alleine. Das überfordere vor allem ältere Menschen. „Dass ihnen bewusst wird, wir können hier alleine sterben“, sagt Sengül. „Das ist etwas, was uns Schwestern belastet.“

Das Verhältnis: Auf einen Corona-Patienten kommt eine Pflegekraft

Dass es pro Station sieben Corona-Patienten zu versorgen gibt, hört sich laut Sebastian Jung zwar nach nicht viel an. „Aber es braucht pro Schicht zwei examinierte Krankenschwestern.“ Pro Tag also insgesamt sechs Pflegekräfte. Das Verhältnis sei nahezu eins zu eins, also für jeden Patienten bräuchte es eine Pflegekraft. Vor Corona war eine Pflegekraft für zehn Patienten zuständig. Und der erhöhte Pflegebedarf kommt in einer Zeit, in der es ohnehin einen Pflegekraftmangel gebe. Das Krankenhaus löst das Problem, indem Betten in anderen Stationen nicht belegt werden. Das sei zwar auch schon vor der Pandemie so gewesen, weil es an Personal fehlte. „Aber das ist erheblich verstärkt worden“, sagt Jung. Und ins Krankenhaus kämen auch andere Erkrankte, nicht nur Corona-Patienten.

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Stationsleiterin Nazmiye Sengül will sich nicht unterkriegen lassen: „Es ist machbar, weil man Prioritäten setzt.“ Wenn es einem Patienten schlecht gehe, dann liege auf diesem ein besonderes Augenmerk. „Ich denke, wir sind alle lang genug in dem Beruf, dass wir das bewältigen können“, sagt sie. Natürlich gebe es Tage, an denen man nach Feierabend nicht abschalten könne. „Das wird es auch immer geben.“ Aber man müsse ein Mittelmaß finden.

Weiter für die Patienten da sein

Trotz der Belastung sind sich Sebastian Jung und Nazmiye Sengül sicher: Sie wollen weiter für die Patienten da sein. „Das, was wir hier machen, ist kein Job, sondern ein Beruf im Sinne von Berufung“, sagt Chefarzt Jung. Angst, sich bei den Patienten mit Corona anzustecken, hat Nazmiye Sengül nicht, sie seien ja geimpft. „Wir haben kein Problem mit Nähe“, betont sie. „Die Leute brauchen das. Und wir geben sie ihnen, sonst würden sie noch mehr leiden.“ Jung ergänzt: „Tatsächlich ist es so, dass wir immer infizierte Patienten behandeln.“ Wenn auch nicht immer mit Corona und nicht immer mit Krankheiten, die einen so schweren Verlauf haben.

Operationen werden verschoben

Chefarzt Sebastian Jung vom Radolfzeller Krankenhaus über die Situation in der Intensivstation, Pflegekräftemangel und vergessene Berufsgruppen:

  • Intensivstation: In Radolfzell können laut Chefarzt Sebastian Jung maximal sechs Patienten auf der Intensivstation untergebracht werden. Vergangenen Donnerstag war die Kapazitätsgrenze erreicht, zwei Plätze wurden von Corona-Patienten belegt. Notfalls werden Patienten nach Konstanz oder Singen verlegt. Damit Kapazitäten frei werden, müssen laut Jung Operationen verschoben werden, die nicht dringend sind. Seit zwei Wochen gelte in Radolfzell: „Alles, was nicht dringend ist, schiebt man auf.“
  • Wertschätzung: Vor dem Hintergrund des Pflegekräftemangels wünscht sich Chefarzt Jung grundsätzliche Verbesserungen. In den 70er-Jahren habe es schon einmal einen Pflegekräftemangel gegeben, damals seien Schwesternwohnheime und Kindergärten gebaut worden, die auf die Pflegeschichten abgestimmt waren. „All diese Dinge sind wieder abgebaut worden“, beklagt Jung. Auch in Radolfzell sei das Schwesternwohnheim abgerissen worden. „Und was für ein Wunder, jetzt gibt es wieder weniger Pflegekräfte“, sagt Jung. Seine Erwartung: Die Politik müsse strukturell mehr machen.
  • Vergessene Berufsgruppen: Sebastian Jung betont, die Pandemie wirke sich am Krankenhaus nicht nur auf die Pflegekräfte und das Ärztepersonal, sondern auch auf alle anderen Beschäftigten aus. „Natürlich sind wir an der Front, aber die andern betrifft es auch.“ Für Reinigungskräfte etwa sei der Aufwand enorm, sie habe man speziell schulen müssen.