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Herr Widmann, Ihr neues Album heißt "Sittenstrolch". Fühlen Sie sich etwa als solcher?

Ich wollte das neue Album zuerst "Viva la Evolucion" nennen. Das Design sollten Fotos von Tieren sein, die wie Hippies aussehen. Eines von den Tieren sollte ich sein. Ich habe mich deswegen äußerlich wochenlang total verwildern lassen. Dann haben wir das Foto-Shooting gemacht und als ich die fertigen Bilder gesehen habe, wusste ich sofort: das ist kein Hippie, das ist ein Sittenstrolch! Da das aber auch ganz gut zu den Songs auf dem Album passte, haben wir uns spontan entschlossen, den Titel einfach zu ändern.

Steckt hinter dem Eröffnungsstück "Latina" auch der Sittenstrolch in Ihnen?

In erster Linie ist es ein albernes Lied über ein sehr ernstes Thema. Ich habe mich gefragt, was die Ursachen für Fremdenfeindlichkeit sind und bin zu dem Schluss gekommen, dass dabei sexuelle Frustration in vielen Fällen eine Rolle spielt. Schauen Sie sich die Wutbürger bei den Pegida-Aufmärschen an: Menschen, die genug Liebe bekommen, sehen anders aus. Ich habe das dann mal recherchiert: Es gibt mehrere Studien, die einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Männerüberschuss eines Wahlkreises und einer gesteigerten Tendenz zur Gewalttätigkeit und einer demokratiefeindlichen Orientierung nachweisen. Nicht abgebautes Testosteron macht also dumm und schlecht gelaunt. Das ist jetzt aber auch keine große Überraschung für mich...

Und was hat es mit dem Song "Burkiniqueen" auf sich?

Ich war im letzten Sommer am Tegeler See in Berlin spazieren und musste feststellen, dass das Schönste an der Einwanderung für mich persönlich die Frauen mit Migrationshintergrund sind. Am nächsten Morgen habe ich in der Zeitung gelesen, dass ein CSU-Politiker mal wieder über das Burkiniverbot schwadronierte. Ich glaube wirklich nicht, dass man durch Kleidungsverbote die Integration fördern kann – etwas Dümmeres habe ich noch nie gehört. Diese Aussage hat mich sehr wütend gemacht, aber um nicht genau so zu sein wie der Politiker, habe ich dazu ein Liebeslied geschrieben.

Dagegen kommt bei "Zwanzig" noch ein echter Rocker bei Ihnen durch. Sind Sie ein heimlicher Fan von AC/DC?

Das "heimlich" können Sie streichen! Die ersten AC/DC-Alben mit Bon Scott als Sänger gehören für mich zu den größten Kunstschätzen der Menschheit. Mein Freund Vito Kutzer von J.B.O. hat mir geholfen, meine Ideen musikalisch genauso in die Tat umzusetzen. Dass "Zwanzig" wirklich nach AC/DC klingt, ist also hauptsächlich sein Werk.

Aber warum wollen Sie "bei aller Liebe keine 20 mehr sein"?

Ach, die Leute jammern immer so über das Älterwerden. Ich habe mich gefragt, ob es mir als jungem Mann tatsächlich besser ging als heute – und die Antwort war eindeutig: Nein! Wenn ich an damals denke, empfinde ich fast eher so etwas wie Mitleid. Der Song ist ein bisschen übertrieben, aber eigentlich doch ganz schön wahr.

Passend dazu nehmen Sie in "Männer ab 50" Ihre eigene Generation unter die Lupe.

In dem Song geht es hauptsächlich um Sex. Vielleicht sehen Männer mit Mitte 20 besser aus, aber mental ist ein Mann in meinem Alter attraktiver. Männer ab 50 sind nicht mehr so irre und triebgesteuert, sondern mit mehr Genuss bei der Sache. Das ist eine Tatsache, die vielen Frauen gar nicht bewusst ist. Also musste ich ein aufklärerisches Lied darüber schreiben.

"Durchdrehen" versprüht eine raue Acoustic-Punk-Attitüde. Wieviel Punk steckt noch in einem Liedermacher jenseits der 50?

Ich glaube, in mir war immer gleich viel Punk. Der Punk ist ein relevanter Bestandteil meiner Gesamtpersönlichkeit und hat jetzt sogar mehr Freiheiten, als noch vor zehn Jahren. Damals, mit 40, dachte ich noch, ich müsste mal langsam ein bisschen erwachsen werden. Mittlerweile habe ich eingesehen, dass das bei mir eh nichts mehr wird und letztlich auch gut so ist.

Und was hat der Mond den Menschen im gleichnamigen Lied zu sagen?

"Was der Mond den Menschen zu sagen hat" ist sehr vielschichtig in seiner Bedeutung – am Ende geht es wahrscheinlich um die Selbstüberschätzung des Menschen. Was sind wir schon? Eine nicht besonders ansteckende Planetenkrankheit, die sich am Ende selbst vernichtet. Unsere universale Bedeutung ist jedenfalls zu vernachlässigen.

Ähnlich wie beim Vorgängeralbum "Krieg & Frieden" haben Sie auch auf "Sittenstrolch" wieder mit einer kompletten Band gearbeitet.

Ich glaube, dass die Songs auf dem neuen Album noch stärker sind. Ich bin zuletzt durch mehrere emotionale Höhen und Tiefen gegangen und hatte mehr Zeit zum Schreiben. Daher gibt es auch mehr Balladen – das sind Sachen, die ganz tief aus dem Herzen kommen.

Und was darf man jetzt auf der Bühne von Ihnen erwarten?

Ich gehe jetzt wieder solo auf Tour. Ich liebe die Freiheit, die ich dadurch habe, wenn ich ohne festen Plan auf die Bühne gehe und ganz spontan reagieren kann. Mein Repertoire ist solo unendlich viel größer, als es mit jeder Band sein könnte. Und die Texte kommen so live auch besser durch. Irgendwann kriege ich auch bestimmt mal wieder Lust, mit anderen Leuten Live-Musik zu machen, aber im Augenblick ist der Solo-Auftritt für mich das bessere Konzept.

Fragen: Thorsten Hengst

Zur Person

Götz Widmann bildete mit seinem Bühnen-Partner Martin ‚Kleinti’ Simon das Duo Joint Venture, bis Simon vor 16 Jahren viel zu jung und völlig unerwartet starb. Seitdem ist Widmann musikalisch auf sich alleine gestellt. In den knapp sieben gemeinsamen Jahren zuvor hat das anarchistische Doppel in den 1990ern das Sub-Genre des Liedermachings erst erfunden, dem heute zahlreiche Künstler und Bands nachfolgen. Widmann veröffentlicht nun ein neues Solo-Album namens "Sittenstrolch". Dem Wesen des Liedermachings folgend, strotzt auch das neue Werk nicht nur vor abwechslungsreichen und kurzweiligen Harmonien, sondern überwindet nicht selten die Grenze zur ungehobelten Satire mit viel rotzigem Rock’n’Roll-Charme. Am Samstag, 29. April, ist der 51-jährige Liedermacher ab 20 Uhr im Contrast in Konstanz zu Gast.