Normalerweise sind es die Waldrappe, die mit ihren Verhaltensweisen überraschen: Fünf Hödinger Waldrappe büxten 2018 aus dem Winterquartier in der Toskana aus und flogen Richtung Rom. Das Weibchen Sonic hielt sich 2019 lieber auf einem Golfplatz in der Schweiz auf, als nach Überlingen zu fliegen. Zwei Weibchen aus der Kolonie im bayerischen Burghausen brüteten 2021 zusammen auf einem Fenstersims in Rom. Ende Oktober vergangenen Jahres startete eine Gruppe von mindestens 18 Jungvögeln gesammelt von Salzburg in den Norden.
Jetzt sind es allerdings die Wissenschaftler des Waldrappteams, die neben der menschengeführten Migration oder dem Transport von Waldrappen in Umzugskartons ins Winterquartier eine überraschende Idee umgesetzt haben. Sie fertigten in einem 3D-Drucker im Naturhistorischen Museum in Wien Attrappen für die Waldrappe. Gedruckt wurden zwei lebensgroße Vögel, die in einem Nest sitzen. Sie sollen die Rückkehrer dazu animieren, von sich aus in der natürlichen Felsstruktur bei Überlingen-Goldbach zu brüten. „Die Idee, der Besiedelung der Brutstätte mit Attrappen nachzuhelfen, hatten wir schon lange“, sagte Waldrapp-Experte Johannes Fritz auf Nachfrage der dpa. Doch die bisherigen „Pseudoartgenossen“ seien nicht gut genug gewesen. Nun sei die Hoffnung groß, dass es mit den 3D-Attrappen klappe. Er sei optimistisch, erklärte Fritz weiter.
Felsen bieten beste Brutvoraussetzungen
Waldrappe brüten in Kolonien. Überlingen wurde nach Burghausen in Bayern und Kuchl in Österreich als dritter Projektstandort für eine Kolonie innerhalb des europäischen Wiederansiedlungsprojekts ausgewählt – und das hat einen guten Grund. Das Waldrappteam schreibt: „Für die Molasse-Felsen am Seeufer zwischen Überlingen und Sipplingen gibt es konkrete Hinweise auf historische Brutaktivität von Waldrappen. Die Felsen bieten auch heute noch beste Voraussetzungen zum Nestbau.“ Doch die Vögel der neueren Generationen näherten sich bisher eher zaghaft. Sie bevorzugten eine künstliche Brutstruktur, die anfangs aus Sicherheitsgründen genutzt wurde, damit die Waldrappe wirklich am Bodensee blieben. Laut Anne-Gabriela Schmalstieg, zwischen 2014 und 2019 Ziehmutter und seit 2020 Betreuerin der Brutkolonie Überlingen, brütete im vergangenen Jahr nur ein Paar an der Felswand. Tragisch: Das Weibchen sei ums Leben gekommen.
Dieses Jahr soll es die Gesellschaft der Attrappen richten. „Sie fühlen sich in Gesellschaft wohl“, sagte Teamleiter Johannes Fritz über die Waldrappe. Nistmaterial wie Moos und Stöckchen soll es den Brutpaaren noch leichter machen, sich in der Felswand einzunisten. Im Hinterland finden sie zudem hochwertige Nahrungsgründe und Schlafplätze. Gern verbringen sie ihre Zeit um Salem und Frickingen, wie Fotos und Videos von SÜDKURIER-Lesern in der Vergangenheit schon eindrucksvoll belegten. Gemeinsam mit der Bergwacht wurden die 3D-Attrappen dieser Tage in der Felswand deponiert. Dort sollen sie bis Herbst bleiben. „Wenn sie Erfolg haben, bekommen die zwei Attrappen im nächsten Jahr Namen“, versprach Fritz, der das Wiederansiedlungsprojekt vor Jahren ins Leben rief.

Die Exemplare aus dem Drucker weisen – wie die Originale – die typischen sichelförmigen Schnäbel und den Federkranz am kahlen Kopf auf. Zum Verwechseln ähnlich sehen sich Attrappen und Waldrappe nicht. Dennoch hegen die Wissenschaftler große Hoffnungen für ihre besondere Idee. Insgesamt vier Brutpaare werden Anne-Gabriela Schmalstieg zufolge in diesem Jahr in Überlingen erwartet. Sie rechnet für Ende März mit der Ankunft der Vögel aus dem Winterquartier in Italien. Verfolgen lassen sich die Tiere, die im Mittelalter am Bodensee so stark bejagt wurden, dass sie ausstarben, mithilfe von GPS-Sendern.