Ein Blick in die Abgründe jahrelanger Gewalt in einer Beziehung: Das Verbrechen im Megamix am 21. Januar hat solche gewalttätigen Abhängigkeiten erhellt, die sonst im Verborgenen bleiben. Um die Mittagszeit mitten in der Stadt erschießt hier ein 47-Jähriger seine getrennt von ihm lebende Ehefrau. Eine solche Tat ist aber nur die Spitze des Eisbergs, weiß man bei der Polizei: Die Dunkelziffer bei Gewalt in der Beziehung sei groß, heißt es. Doch nur wenig davon kommt ans Tageslicht.

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Deutschlandweit hat sich die Polizei das Thema Femizide, die Tötung von Frauen durch Partner oder Ex-Partner, als Schwerpunkt gesetzt. Eine zentrale Rolle nimmt dabei Polizeipräsident Uwe Stürmer ein. Der Chef des Präsidiums Ravensburg koordiniert federführend ein bundesweites Forschungsvorhaben, das Femizide künftig wirksamer verhindern soll. Gefährdungen sollen rechtzeitig bekannt und angegangen werden, noch bevor sie eskalieren. Im Gespräch mit dem SÜDKURIER im Polizeipräsidium Ravensburg erläuterte Stürmer das Vorhaben und verwies auch darauf, dass die Polizei in potenziellen Gewaltfällen auf Hinweise aus dem Umfeld und dem Bekanntenkreis angewiesen sei. Denn Hilfe gibt es, sie wird nur zu selten in Anspruch genommen.

Worum geht es bei dem Forschungsprojekt der Polizei und des Bundes?

Das Programm „Polizeiliche Gefährdungsanalysen zu Tötungsdelikten in Partnerschaft und Familie“ (Gate) wurde im Mai 2022 aufgelegt. Im August 2024 soll es abgeschlossen sein. Es soll Warnsignale im Vorfeld von Tötungsdelikten in Partnerschaften und Ex-Partnerschaften (sogenannte Intimizide) erforschen. Die Erkenntnisse sollen es der Polizei ermöglichen, potenziell gefährliche Entwicklungen bereits frühzeitig zu erkennen. Anhand der Ergebnisse sollen die Polizisten dann bundesweit geschult werden.

Spurensicherer der Kriminalpolizei Friedrichshafen untersuchen den Verkaufsraum des Megamix-Ladens am Nachmittag der Tat. Der ...
Spurensicherer der Kriminalpolizei Friedrichshafen untersuchen den Verkaufsraum des Megamix-Ladens am Nachmittag der Tat. Der Tatverdächtige ist in Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft Konstanz hat den Fall übernommen. | Bild: dap/SK

Zentral geht es um den Begriff Leaking-Verhalten. Darunter versteht man etwa Botschaften im Internet, in Messenger-Chatverläufen, auf Plattformen wie Facebook oder Instagram. Dieses Durchsickern von Informationen seitens der Betroffenen oder deren Umfeld sei als Warnsignal bisher noch kaum untersucht. Bislang stützt sich die Polizeiarbeit vor allem auf Gewaltvorgeschichten und auf statistische Risikofaktoren. Es geht darum, wie solche Leakings systematisch aufgespürt und für die Polizeiarbeit verwendet werden können.

Wie kann die Polizei bei Drohungen oder Gewalt einschreiten?

Grundsätzlich: Für nahezu alle Maßnahmen, die die Polizei ergreifen kann, braucht es die Mithilfe der Betroffenen und des Umfelds. Ohne Mithilfe seien der Polizei aus rechtlichen Gründen häufig die Hände gebunden, das macht Stürmer im Gespräch immer wieder deutlich. Ein Mittel ist die Gefährderansprache. Bekommen die Beamten Hinweise auf Gewalt oder eine eventuell bevorstehende Gewalttat, können sie die Person aufsuchen und quasi vorwarnen, eine Art gelbe Karte. „Das wirkt manchmal durchaus“, sagt Stürmer: „Die Person sieht: Ich werde beobachtet, die haben mich auf dem Schirm.“

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Hilft die Gefährderansprache nicht, kann die Polizei ein Annäherungsverbot oder ein Wohnungsverbot verfügen. Das muss aber von der bedrohten Person beantragt werden, andernfalls hat die Polizei keine rechtliche Handhabe. Ein Wohnungsverbot kann für bis zu 14 Tage ausgesprochen werden. Dafür braucht es aber eine „Akutsituation“, sagt Polizeisprecher Oliver Weißflog, also einen gewalttätigen Vorfall. Besteht die Gefährdung nach Einschätzung der Polizei danach weiter, kann sie ein sogenanntes Rückkehrverbot aussprechen. „Was sich hinter einer Wohnungstüre abspielt, kommt häufig nicht ans Licht“, betont Stürmer. Die Polizei ist also auf Mithilfe der Betroffenen angewiesen.

Wie erhalten Opfer häuslicher Gewalt Hilfe und was müssen sie dafür tun?

„Wir haben einen deutlichen Anstieg im Hellfeld der häuslichen Gewalt“, sagt Stürmer. Im Bereich des Präsidiums Ravensburg sei die Zahl der Fälle von 550 im Jahr 2021 auf knapp 800 im vergangenen Jahr gestiegen. Die tatsächliche Zahl liegt aber weit höher. „Wir haben ein riesiges Dunkelfeld“, sagt der Polizeichef. Seit das Gewaltschutzgesetz 2002 in Kraft trat, hat die Polizei weitere Instrumente und haben Betroffene mehr Möglichkeiten, sich Hilfe zu holen. Das Gesetz folgt dem Grundsatz „Wer schlägt, muss gehen, das Opfer bleibt in der Wohnung“.

Aber auch hier gilt: Betroffene müssen der Weitergabe ihrer Daten oder ihrer Anzeige durch die Polizei zustimmen. Dann vermittelt die Polizei Hilfe – durch Hilfseinrichtungen, Beratung, die Vermittlung in ein Frauenhaus. Die Polizei arbeitet dabei etwa mit dem Weißen Ring oder der Caritas zusammen. Sind externe Hilfseinrichtungen in einen Fall eingebunden, kommen zum Beispiel auch die Jugendämter und Familiengerichte ins Spiel. Auch sie können dann schützende Maßnahmen verfügen.

An welche Adressen können sich Opfer häuslicher Gewalt wenden?

Im Bodenseekreis gibt es ein Frauen- und Kinderschutzhaus des Landkreises, das beschützende Haus. Die Adresse ist geheim, den Kontakt vermittelt das Landratsamt unter der Hilfe-Hotline für Frauen unter Gewalt 08000/116016 oder 07541/4893626. Das Frauenhaus kann unter frauenhaus@awo-bodenseekreis.de auch per E-Mail angefragt werden. Außerdem gibt es in Friedrichshafen mit der Einrichtung Mariposa der Arbeiterwohlfahrt eine neue Anlaufstelle für Opfer häuslicher und sexueller Gewalt. Dort wird kostenlos und auf Wunsch auch anonym beraten. Mariposa versteht sich den Verantwortlichen zufolge als Ergänzung zum Frauenhaus, die Betroffene berät, die einen Umzug ins Frauenhaus erwägen. Auch hier erfolgt der Kontakt über die Arbeiterwohlfahrt, Tel. 07541/21800 oder per E-Mail: beratungsstelle@awo-bodenseekreis.de