Häusliche Gewalt ist nie harmlos. Manche Fälle wirken aber harmloser, als sie der Polizei erscheinen. Wenn dann jemand getötet wird, fragen sich am Ende die Ermittler und die Angehörigen: Was lief schief, was haben wir übersehen, warum hat es niemand geahnt?

Uwe Stürmer, 1999 bis 2001 Leiter der Mordkommission in Stuttgart, seit 2020 Leiter des Polizeipräsidiums Ravensburg, sagt: „Ich habe immer wieder Fälle erlebt, bei denen lief es schief.“ Sprich: Wurde der Polizei die Gefahr einer Beziehung erst bekannt, als es Tote gab.

Täglich ein Tötungsdelikt gegen die (Ex-)Partnerin

Es ist für den Polizeichef seit Jahren ein Herzensanliegen, genauer hinzuschauen, wenn es innerhalb einer gescheiterten Beziehung zu Gewalt kommt. Mit den Ergebnissen der nun anlaufenden Forschung soll die Polizei befähigt werden, die brisantesten Fälle aus einer grausigen Flut an Gewaltdelikten herauszufiltern.

„Leider passiert es jeden Tag“, sagt Stürmer. Täglich gebe es laut Kriminalstatistik irgendwo in der Bundesrepublik einen Fall, an dem ein Mann seine (frühere) Partnerin tötet oder versucht, sie zu töten. In jedem dritten Fall stirbt sie. Nicht ganz so oft, aber immer noch an jedem dritten Tag, gebe es die Fälle mit umgekehrten Geschlechterrollen, wolle also eine Frau das Leben ihres aktuellen oder früheren Partners auslöschen.

„In einer Trennungsphase ist, statistisch betrachtet, der gefährlichste Mensch der eigene Partner.“
Uwe Stürmer, Polizeipräsident

Uwe Stürmer ist Projektkoordinator eines im Mai gestarteten bundesweiten Forschungsprojekts, das herausfinden soll, wie man einen Intimizid – die Tötung eines Intimpartners – erkennt, bevor er passiert. Der Bund fördert das auf zweieinhalb Jahre angelegte Projekt mit 1,1 Millionen Euro. Es steht unter dem Namen Gate (Polizeiliche Gefährdungsanalysen zu Tötungsdelikten in Partnerschaft und Familie).

Fälle, die auch dem Profi nahe gehen

Er sei dankbar für die finanzielle Unterstützung des Bundes, sagte Stürmer, und lässt durchblicken, wie sehr ihm, trotz der beruflichen Distanz, die Fälle nahe gehen, die in seinen Akten als Mord oder Totschlag geführt werden. „Wir reden über das Rechtsgut Leben.“

Wissenschaftliche Begleitung des Projekts

Rebecca Bondü, Professorin an der Psychologischen Hochschule in Berlin, begleitet das Projekt wissenschaftlich, gemeinsam mit Thomas Görgen, Professor für Kriminologie an der Deutschen Hochschule der Polizei. Weitere Projektpartner sind das VDI Technologiezentrum, das Innenministerium, Frauenhäuser und der Weiße Ring. Außerdem die Kantonspolizei Zürich. Das Projekt geht über Staatsgrenzen hinaus und soll auch der Polizei in der Schweiz und in Österreich zugute kommen.

„Der Tat gehen häufig längere Planungs- und Entwicklungsprozesse voraus, auch Ankündigungen.“Rebecca Bondü, Professorin an ...
„Der Tat gehen häufig längere Planungs- und Entwicklungsprozesse voraus, auch Ankündigungen.“Rebecca Bondü, Professorin an der Psychologischen Hochschule in Berlin. | Bild: Hilser, Stefan

Rebecca Bondü gab bei einer Pressekonferenz zum Auftakt des Projekts einen Einblick in die Fragen, die anhand konkreter Fälle nun untersucht werden sollen. „Gibt es Warnsignale, wenn ja, wie sehen sie aus, wie häufig tauchen sie auf?“ Oftmals sei das Erstaunen nach einem Tötungsdelikt im Umfeld groß, bei genauem Hinsehen stelle man dann aber fest, dass es Signale geben hätte müssen. „Der Tat gehen häufig längere Planungs- und Entwicklungsprozesse voraus, auch Ankündigungen.“ Entgegen einer landläufigen Meinung, passierten Beziehungstaten in den meisten Fällen eben nicht spontan.

Tausende Aktenseiten von alltäglicher Gewalt

Die Forschenden werden in den nächsten Monaten tausende Seiten an Ermittlungsakten studieren, aber nicht nur die Akten nach vollendeten Taten, sondern auch Fälle, in denen es bei einer Morddrohung blieb, die dann aber nicht umgesetzt wurde.

„Kann man das clustern?“, fragt sich Stürmer – und umreißt damit die Kernfrage der Studie. „Ich bin gespannt darauf, ob man Unterschiede feststellt zwischen vollendeten Tötungsdelikten und den Fällen, in denen es bei einer Androhung blieb.“ Im besten Fall soll das Forschungsprojekt eine Art Baukastensystem schaffen, mit dem sich systematisch die bedrohlichsten Fälle aus einer Fülle an gewalttätigen Beziehungen herausfiltern lassen. Es mache einen Unterschied, ob jemand den Satz sagt: „Ich bringe Dich um.“ Oder ob er konkreter wird: „Wenn Du mich verlässt, dann ersteche ich Dich.“ Und was muss nun geschehen, damit nach der Formulierung des zweiten Satzes die Alarmglocken klingeln?

„Sich zu trennen, hat etwas mit der Bedrohung von Selbstwert und Identitätsverlust zu tun.“Thomas Görgen, Professor für ...
„Sich zu trennen, hat etwas mit der Bedrohung von Selbstwert und Identitätsverlust zu tun.“Thomas Görgen, Professor für Kriminologie an der Deutschen Hochschule der Polizei. | Bild: Hilser, Stefan

Wie Thomas Görgen betont, schafft das Ende einer Beziehung oftmals eine besondere Dynamik. „Sich zu trennen, hat etwas mit der Bedrohung von Selbstwert und Identitätsverlust zu tun.“ Wenn eine Ex-Partnerschaft dann zu Stalking führt, so wisse man aus der Kriminalstatistik, dass hier besondere Vorsicht geboten ist.

Pro Jahr 150.000 Fälle häuslicher Gewalt

Von 150.000 Fällen an häuslicher Gewalt, die jährlich bundesweit polizeibekannt werden, gingen 35.000 Fälle mit Bedrohungen einher. Laut Uwe Stürmer könne ein Streifenpolizist bei der Aufnahme eines Einzelfalls nicht den ganzen Hintergrund einer Beziehung beleuchten. Ziel sei es aber, dass die vom Beamten aufs Revier mitgebrachten Details, in Kombination mit Aussagen der Betroffenen und den Erkenntnissen anderer Behörden, ein klareres Gesamtbild ergeben.

Die Dunkelziffer, fürchtet Stürmer, sei bei Gewalt in der Beziehung sehr hoch. Er erwarte, dass mit den Erkenntnissen der Studie das Dunkelfeld besser ausgeleuchtet werden kann. Schon heute gebe die Statistik ein düsteres Bild ab: „In einer Trennungsphase ist, statistisch betrachtet, der gefährlichste Mensch der eigene Partner.“

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