Ihre Schritte hallen nach, wenn Mika, Jana und Vanessa mit ihren Füßen auf dem Boden der Stockacher Kreisturnhalle aufschlagen. Die Hände haben sie dabei zu Fäusten geballt, den rechten Arm angewinkelt und den linken diagonal nach unten gestreckt. Sie üben eine Kata mit ihrem Trainer Rolf Kempter ein, der auch Mikas und Janas Vater ist. Kata ist japanisch und beschreibt eine Art Schattenboxen, das zu den wesentlichen Elementen des Kampfsports Karate gehört.
Es ist früher Freitagabend. Die Kinder der Fortgeschrittenen-Gruppe des Vereins Karatedojo absolvieren ihr wöchentliches Training in der Kreisturnhalle Stockach. „Das japanische Wort Dojo bedeutet Trainingsraum“, erklärt Dietmar Ehrlich. Er hat den Verein vor 40 Jahren mit fünf anderen Karate-begeisterten Stockachern gegründet. Heute ist er dessen Dojo-Leiter, was einem Vereinsvorsitzenden entspricht.
Nachdem er mit 23 seinen Dienst bei der Bundeswehr beendet hatte, kehrte Ehrlich 1975 nach Stockach zurück und stieß zu einer Gruppe, die sich regelmäßig zu Karate-Trainings traf. „Das Ganze fing in Konstanz an“, erzählt Dietmar Ehrlich. Die Konstanzer Karateka („Karate Praktizierende“) hätten dann in Stockach eine Art Außenstelle eröffnet. Die Gründung eines Stockacher Vereins 1978 habe vor allem versicherungstechnische Gründe gehabt, sagt Ehrlich: „Damals wurde auch noch härter trainiert und ohne Zahn- oder Brustschützer.“ Das sei heute anders. Auch sonst habe sich der Kampfsport verändert, fügt Ehrlich an. Früher sei er viel statischer gewesen, die Karateka hätten aus dem Stand zugeschlagen. „Heute ist alles athletischer. Die Gegner sind ständig in Bewegung und springen rum.“ Was Dietmar Ehrlich damit meint, wird deutlich, als zwei Jungs einen kurzen Kampf vorführen: Wie Boxer tänzeln sie voreinander herum, bevor sie mit Faust oder Bein zuschlagen.

In den Anfangsjahren des Vereins lag das Mindestalter für Neumitglieder bei 14 Jahren und wurde dann sukzessive gesenkt. Heute beträgt es sechs Jahre. Das zeugt von der zunehmenden Professionalisierung des Vereins in den letzten Jahrzehnten. Die ehrenamtlichen Trainer bilden sich stetig weiter, unter anderem im Kindertraining. „Ich habe schon von vielen Eltern gehört, dass ihre Kinder in der Schule aufmerksamer und konzentrierter sind, seit sie Karate machen“, sagt Dietmar Ehrlich. Zudem sei Karate ideal, um die koordinativen und motorischen Fähigkeiten sowie das Gleichgewicht zu trainieren.
Dem stimmt Rolf Kempter zu. Er ist Schriftführer und Trainer des Stockacher Karatedojos. „In den vergangenen Jahren hat sich Karate aber auch immer mehr zu einer Gesundheitssportart entwickelt“, sagt Kempter. Vor allem für ältere Leute sei Karate geeignet, da man sich viel bewege und das eigene Körpergefühl trainiere. Zudem werde das Gedächtnis gefordert, wenn man eine Vielzahl an Bewegungsabläufen einstudieren müsse. „Wir würden daher in Zukunft gerne auch Vital-Karate für ältere Menschen anbieten“, sagt Rolf Kempter. Sein Angebot erweitern will der Verein auch, weil die Mitgliederzahlen seit einigen Jahren rückläufig sind. „Als wir unseren Verein 1978 gegründet haben, gab es wegen der ganzen Bruce Lee-Filme einen richtigen Karate-Boom", erinnert sich Dietmar Ehrlich. Auch danach ging es stetig aufwärts: vor zehn Jahren zählte der Stockacher Karatedojo 180 Mitglieder. Inzwischen sind es noch rund 70.
Um Neumitglieder zu gewinnen, setzt Rolf Kempter neben dem Ausbau des Trainingsangebots für ältere Menschen auf die Olympischen Spiele in Tokio. Karate gehört 2020 erstmals zu den Wettkampf-Disziplinen. „Dadurch erhalten die Karate-Verbände mehr Fördergelder“, sagt Kempter. Zudem hofft er, dass der Sport dank Olympia wieder populärer wird – und der Stockacher Karatedojo neue Mitglieder gewinnt.
Die Kampfkunst
Karate bedeutet „leere Hand“. Die waffenlose Kampfkunst entstand auf der japanischen Insel Okinawa und wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in ganz Japan populär. Während der Besetzung Japans nach dem Zweiten Weltkrieg erlernten auch US-amerikanische Soldaten die Kampfkunst. Sie brachten Karate mit in ihre Heimat und gründeten dort eigene Karateschulen, Karatedojos genannt. Laut dem Deutschen Karate Verband wurde der erste deutsche Karatedojo 1957 in Homburg eröffnet. Heute gibt es allein in Baden-Württemberg 284 Karatevereine.