Wenn es nach den Aussagen der Angeklagten ginge, hatten ihre Nachbarn es auf sie abgesehen. So sehr, dass sich die Frau aus Uhldingen-Mühlhofen wehren wollte. Doch ihre Nachbarn ertappten sie auf frischer Tat und riefen die Polizei. Die Folge: Ermittlungen, ein Strafbefehl und jede Menge Fragen. Zwei Jahre später sitzt sie im Prozesssaal des Überlinger Amtsgerichts. Ihr wird gefährliche Körperverletzung in mehreren Fällen vorgeworfen. Zwischen Mai und August 2021 soll die 74-Jährige mehreren Nachbarn Reizgas in die Wohnungen gesprüht haben.

Die Frau hat ihre Hände auf dem Tisch gefaltet, sie zittert. „Ich habe nichts davon gemacht“, sagt sie nach Verlesung der Anklage. Ihr Verteidiger sitzt zurückgelehnt und mit ausgestreckten Füßen neben ihr. Er hat die Arme verschränkt, schaut sie an und legt seine Stirn in Falten.

„Haben sich die Nachbarn das ausgedacht?“

Die Angeklagte zog an den Bodensee, um hier ihre Rente zu verbringen. Seit mehreren Jahren komme sie gut mit ihrer Nachbarschaft aus. Sie spricht von einer „ruhigen Hausgemeinschaft“, in der man sich auf dem Gang grüße. „Und die Vorwürfe?“, fragt Amtsrichter Alexander von Kennel. „Haben sich die Nachbarn das also einfach so ausgedacht?“ Im Saal sitzt auch die Anwältin von zwei betroffenen Nachbarn. Diese sind nach den Vorfällen ausgezogen, treten aber als Nebenkläger auf. Außerdem sollen drei weitere Zeugen vernommen werden.

Der Sitzungssaal 108 des Überlinger Amtsgerichts: Hier finden in der Regel die Strafprozesse statt.
Der Sitzungssaal 108 des Überlinger Amtsgerichts: Hier finden in der Regel die Strafprozesse statt. | Bild: Cian Hartung

Der Amtsrichter und die Staatsanwältin haben während der Vernehmung der Angeklagten Zweifel an ihrer Schuldfähigkeit. Laut Polizei sei sie in der Vergangenheit bereits in Verbindung mit Reizgas und fragwürdigen Anrufen bei den Beamten auffällig gewesen. Ihnen gegenüber sprach sie bei den Vernehmungen nach ihrer mutmaßlichen Tat von lauten Partys in Nachbarwohnungen, einem von Nachbarn in ihren Kofferraum geschütteten Giftpulver und Reizgas-Attacken der Hausbewohner. Alle Vorfälle ließen sich bei anschließenden Ermittlungen nicht beweisen.

Staatsanwältin spricht vom Borderline-Syndrom

Die Staatsanwältin sieht auf Basis der Angeklagten-Akte beim Verhalten der Angeklagten einen Mangel an Aufmerksamkeit und vermutet das Borderline-Syndrom. Eine Diagnose und eine Einschätzung der Schuldfähigkeit stehen ihr aber nicht zu. Dafür muss ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben werden. „Das würde mehrere Monate dauern“, so Amtsrichter von Kennel. Sollte sie nicht schuldfähig sein, könnte sie für ihre Tat nicht bestraft werden. Fest steht aber, so der Richter: „Nach den Polizeiaussagen sind mindestens zwei Straftaten nachweisbar.“

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Von Kennel schlägt ihr daher gemäß des Strafrechts eine schnelle Lösung vor: Das Strafverfahren wird vorläufig eingestellt, im Gegenzug muss sich die Angeklagte für maximal ein Jahr monatlich in psychiatrische Behandlung begeben. Die Fortsetzung und die Fortschritte der Therapie werden regelmäßig an ein Betreuungsgericht gemeldet. Sollte sie den Sitzungen fern bleiben, wird der Strafprozess fortgesetzt.

Was der Angeklagten plötzlich wieder einfällt

Nach einer Beratungspause mit ihrem Verteidiger akzeptiert die 74-Jährige den Vorschlag. Ihr fällt sogar überraschend ein, dass sie bereits in psychiatrischer Behandlung sei. Darauf, dass sie das im Prozess zuvor nicht erwähnt hatte, gehen Amtsrichter und Staatsanwältin nicht weiter ein. Die Angeklagte erklärt zudem, sie habe Depressionen. „Das liegt laut meiner Therapeutin an meiner Hochintelligenz.“

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Am vorläufigen Ausgang des Prozesses ändert das nichts. Die Angeklagte muss ihre Behandlung bei ihrer Therapeutin fortsetzen und intensivieren. Sie muss zudem die Verfahrenskosten der Nebenkläger zahlen. Die Kosten des Strafverfahrens übernimmt die Staatskasse.