Anica Grubisic liegt im Bett und schaut fern. Es läuft Bibel TV. „Sie war immer sehr gläubig“, sagt ihre Tochter Josipa Lotzmann, als sie das Zimmer im Franziskuszentrum in Friedrichshafen betritt. Am Infusionsständer hängt ein Schutzengel mit Rosenkranz. Lotzmann nimmt die Hände ihrer Mutter, spricht mit ihr. Eine Antwort erhält sie seit über einem Jahrzehnt schon nicht mehr.
Anica Grubisic ist seit einem Schlaganfall bettlägerig und schwer pflegebedürftig. Davor war die heute 74-Jährige eine lebensfrohe Frau, hat getanzt, ist ausgegangen. Eine Fotocollage an der Wand erinnert an diese Zeit. Mit dem Schlaganfall kam eine halbseitige Lähmung. „Sie brauchte Hilfe beim Aufsetzen, konnte sich dann aber kurze Zeit selbst aufrechthalten“, schildert ihre Tochter. An Aufstehen oder mehr sei aber nie mehr zu denken gewesen.

Aktuell darf sich Anica Grubisic nicht mal in eine sitzende Haltung helfen lassen, da seit Anfang März ihr Oberschenkel gebrochen ist. Zwölf Tage lang lag die 74-jährige Pflegeheimbewohnerin mit dem offenen Oberschenkelbruch im Bereich des Kniegelenks im Bett, bis sie schließlich ins Klinikum Friedrichshafen gebracht und operiert wurde.
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Tochter Josipa Lotzmann, die gleichzeitig gesetzliche Betreuerin ihrer Mutter ist, wandte sich im April an den SÜDKURIER und erzählte ihre Geschichte. Um sich einen umfassenden Überblick zu verschaffen, bat die Redaktion auch den Heimträger sowie den Hausarzt um Stellungnahmen und verschaffte sich außerdem mit einer Vollmacht Zugang zum Pflegeprotokoll, der Patientenakte und sämtlichen Arztbriefen. Auszüge aus diesen Unterlagen sind in diesem Text zu finden.
Anzeige gegen Heimträger
Laut medizinischer Leitlinie gehört ein Bruch, wie ihn Anica Grubisic erlitt, sofort notfallmedizinisch behandelt. Die Frage danach, warum das nicht passiert ist, müssen nun Polizei und Staatsanwaltschaft beantworten. Josipa Lotzmann, die auch gesetzliche Betreuerin ihrer Mutter ist, hat die Stiftung Liebenau, Trägerin des Franziskusheims, wegen des Verdachts auf unterlassener Hilfeleistung angezeigt. Die Polizei Ravensburg bestätigt auf eine SÜDKURIER-Anfrage hin die Ermittlungen durch das Polizeirevier Friedrichshafen. Wann die Ermittlungen abgeschlossen sein werden, kann ein Polizeisprecher noch nicht sagen.
Sowohl die Stiftung Liebenau als auch Grubisics Hausarzt wurden vom SÜDKURIER zu einer Stellungnahme gebeten. „Wir sind derzeit gemeinsam mit den beteiligten Behörden damit befasst, den Sachverhalt vollumfänglich aufzuklären. Dies liegt sowohl im Interesse der von uns betreuten Menschen als auch im Interesse des Franziskuszentrums wie der Stiftung Liebenau. Auch vor dem Hintergrund des laufenden Verfahrens bitten wir hierbei um Verständnis, dass wir derzeit keine weiteren Angaben machen“, erklärt Stiftungssprecher Ulrich Dobler. Auch der Hausarzt lehnte ein Gespräch mit dem SÜDKURIER ab.
Wer die Verantwortung dafür trägt, dass die 74-Jährige erst nach zwölf Tagen operiert wurde, ob es Probleme bei den Zuständigkeiten in der ärztlichen Betreuung gegeben hat oder gar ein Versagen des Pflegepersonals vorliegt, ist aktuell völlig offen. Klar hingegen ist, wie sich die Krankheitsgeschichte zugetragen hat. Doch von vorne.
Hämatom am rechten Knie
Pflegeprotokoll: Montag, 20. Februar 2023. Bewohnerin hat am rechten Knie Hämatom.
Pflegeprotokoll: Dienstag, 21. Februar 2023. Das Knie ist geschwollen, schmerzt. Ein kleiner Knochen ist sehr auffällig. Beim Tasten und versuchen, das Bein zu strecken, zeigt die Bewohnerin Schmerzen. Kalte Kompressen über Nacht, Knie positioniert in stabile Lage und Paracetamol 1000 als Behandlung. Bitte Info an Hausarzt.
Tochter Josipa Lotzmann ist immer noch sichtlich außer Fassung. Sie hat Tränen in den Augen, während sie darüber spricht, wie ihre Mutter ihrer Meinung nach im Heim vernachlässigt worden sei. „Es wurde von den Pflegern ja sogar notiert, dass sie Schmerzen gezeigt hat. Man merkt ja auch jetzt, dass sie auf uns reagiert und alles um sich herum mitbekommt“, erklärt Lotzmann. Selbst äußern kann sich Anica Grubisic nicht mehr, auch wenn sie ihre Umwelt noch wahrnimmt und reagiert, wenn sie angesprochen wird. Apallisches Syndrom notieren die Ärzte später im Krankenhaus. Ein Wachkoma. Für Josipa Lotzmann ist das Schlimmste an der Sache, dass ihre Mutter in diesem Zustand vollkommen ausgeliefert ist.
Pflegeprotokoll: 22./23. Februar 2023. Antibiotika und IBU 600 von der Apotheke geliefert. Keine Visite eingetragen? Bitte noch in Praxis anrufen und abklären.
23. Februar 2023. Am 23. Februar wurde in der Praxis angerufen, da keine Hausarztvisite stattgefunden hat und wegen Antibiotika und Ibuprofen Apothekenlieferung. Laut Arzthelferin: Dr. ... (Anmerkung der Redaktion: der Hausarzt) ist bei Fortbildung und er hat den Medisplan gefaxt und wir sollen uns daran halten.
28. Februar 2023. Das Knie von Fr. A. hat sich verbessert. Der Knochen steht aber noch hervor und sie hat Schmerzen beim Ändern der Position.

Am 5. März brachte der Rettungsdienst Anica Grubisic schließlich ins Klinikum Friedrichshafen. In einem Arztbrief an den Hausarzt der 74-Jährigen (Datum 9. März) heißt es, dass „eine Hautdurchspießung am Oberschenkel durch den frakturierten Oberschenkelknochen aufgefallen war. Vor ca. zwei Wochen sei die Patientin gestürzt und hatte sich vermutlich die oben genannte Fraktur zugezogen. Bisher war keine Therapie erfolgt.“
An jenen Sonntag im März erinnert sich Josipa Lotzmann noch gut, denn da bekam sie einen Anruf vom Klinikum, dass ihre Mutter eingeliefert worden sei. „Ich verstehe nicht, wieso niemand mich vorher kontaktiert hat. Ich bin die gesetzliche Betreuerin meiner Mutter“, kritisiert Lotzmann. Von dem schlechten Zustand ihrer Mutter hat Lotzmann nach ihren Schilderungen nichts mitbekommen: „Wir waren davor ein paar Wochen nicht bei ihr zu Besuch gewesen. Meine Töchter waren eine nach der anderen krank und wir wollten meine Mutter natürlich nicht anstecken.“
Von einem Sturz weiß Tochter Lotzmann nichts. Auch im Pflegeprotokoll, das dem SÜDKURIER über den genannten Zeitraum vorliegt, ist nichts vermerkt. „Dass ein Unfall passiert, das ist menschlich“, findet Lotzmann. Sie verstehe auch, dass die Pfleger in dem Moment mit der Situation vielleicht überfordert gewesen seien. Irgendjemand müsse sie ja fallen lassen haben; beim Waschen vielleicht. „Allein kommt sie schon lange nicht mehr aus dem Bett“, ist die Tochter überzeugt.
Auszug aus dem Arztbrief des Klinikums. Nach entsprechender OP-Vorbereitung führten wir am selben Tag die Frakturosteosynthese mittels Fixateur externe (Anmerkung der Redaktion: eine operative Verbindung von zwei oder mehr Knochen mit dem Ziel, dass diese zusammenwachsen) durch. (...) In deutlich gebessertem Allgemeinzustand können wir die Patientin am 9. März 2023 zurück ins Pflegeheim aus unserer stationären Behandlung entlassen.
Einige Wochen später, am 11. April, musste die 74-Jährige erneut ins Krankenhaus, um die Schrauben zu entfernen. Dabei zeigte sich der Bruch laut einem Arztbrief vom 12. April, der dem SÜDKURIER ebenfalls vorliegt, instabil. Eine Amputation des rechten Beines stand im Raum. Schließlich entschieden sich die Ärzte und die Tochter allerdings dagegen. Der Bruch sollte weiterhin konservativ behandelt werden. Bei Familie Lotzmann hinterließ der Vorfall viele Fragezeichen, die schließlich zur Anzeige führten.

Dass möglicherweise ein Fehler bei der Pflege passiert sei, sei nicht das Schlimmste, meint Lotzmann. Aber die Verwaltung des Pflegeheims hätte handeln müssen. „Deshalb richtet sich mein Vorwurf vor allem an sie. Bei den Pflegern weiß ich, dass sie sich bemühen. Einer war sogar mal ehrenamtlich in seiner Freizeit mit meiner Mutter bei einem Familienfest dabei“, sagt Lotzmann.
Was bleibt, ist ein kleiner Funken Hoffnung, dass die Knochen doch noch zusammenwachsen. Bislang ist die Heilung noch nicht absehbar.