Im Friedrichshafener Büro von Iris Gerster gibt es allerlei Spielsachen: Tiere, Drachen, Puppen, Bücher – und auch Taschentücher. Oftmals fließen hier Tränen. Seit fast sieben Jahren betreut die Diplom-Sozialarbeiterin am Bodensee Kinder und Jugendliche, die Opfer von sexueller Gewalt geworden sind. Bis Ende 2022 standen sie und ihre Kolleginnen in Friedrichshafen und Überlingen 449 Menschen bei. Hinter dieser Zahl verbergen sich 449 Schicksale.
Betroffene kennen Täter meist
Iris Gerster kann sich noch gut an einen ihrer ersten Fälle in der Fachberatungsstelle Morgenrot erinnern. „Ein junger Mann hatte sich jahrelang an seiner kleinen Schwester vergangen.“ Die Tat zeigt exemplarisch: Oftmals kommen die Täter aus der Familie oder dem sozialen Umfeld. Eltern, Geschwister, Freunde, Bekannte. Dieser Personenkreis ist für über drei Viertel aller Delikte verantwortlich.
„Bei gut einem Fünftel der Fälle ist nicht bekannt, wer der Täter ist“, führt die Expertin weiter aus. Noch geringer sei der Anteil der sogenannten Fremdtäter: Menschen, die keine vorherige soziale Bindung zu ihren Opfern hatten. Gerster ist es wichtig zu betonen: „Es gibt keinen speziellen kulturellen Hintergrund, der besonders viele Gefährder hervorbringt.“ Das Problem ziehe sich quer durch die Gesellschaft.
Betroffen sind laut der Expertin vor allem sehr junge Menschen: „58 Prozent unserer Fälle sind Kinder bis 13 Jahre, den größeren Teil davon machen Mädchen aus.“ Doch auch Jungen werden zum Ziel von sexueller Gewalt: 92 Menschen zählt Gerster in der Statistik ihrer Beratungsstelle. Doch was geschieht genau, wenn Betroffene zu ihr kommen?

Kindern wird oft nicht geglaubt
„In Gesprächen stabilisieren wir die Kinder und Jugendlichen, bauen sie auf.“ Oftmals seien Eltern mit dabei, Großeltern, pädagogische Fachkräfte oder andere Vertrauenspersonen. Gerster hilft bei der Suche nach Therapeuten, begleitet ihre Klienten bei Gerichtsverhandlungen, informiert über Möglichkeiten der Strafverfolgung. „Wir bieten bedarfsorientierte Gespräche an – und zwar so lange, wie es erforderlich ist.“
Den Tätern das Handwerk zu legen, das ist nicht einfach. Gerster: „Kinder brauchen im Schnitt sieben Anläufe, bis ihnen geglaubt wird.“ Gerade deswegen sei präventive Arbeit sehr wichtig. „Aktuell bieten wir das Projekt ‚Echte Schätze‘ an. Dabei schult ihr Team Kita-Mitarbeiter, stellt Bilderbücher, Fachliteratur und andere Materialien zur Verfügung. 14 Einrichtungen im Bodenseekreis haben sich bereits angemeldet. Auch mit der Ausstellung ‚Echt krass‘ hat sich die Einrichtung Morgenrot bereits an Jugendliche gewandt.
Nur ein Viertel der Taten wird angezeigt
Trotz all dieser Bemühungen werden wenige Täter angezeigt. „Lediglich ein Viertel unserer Fälle wird strafrechtlich verfolgt“, so Gerster. Groß ist die Scham der Opfer, auch in Bezug auf die Täter. Hinderlich sei besonders, dass letztere meist aus dem nahen sozialen Umfeld kommen: Wer zeigt schon ein Familienmitglied an?
Diese Angaben bestätigt auch Simon Göppert, Sprecher des Polizeipräsidiums Ravensburg. „Die Dunkelziffer ist groß.“ Anzeigen machen ihm zufolge Geschädigte oder Personen aus deren Umfeld: etwa der Familie, des Bekanntenkreises oder der Schulen. Bisweilen kommen die Ermittler auch Tätern durch laufende Strafverfahren auf die Spur, zum Beispiel wenn sie Datenträger auswerten.
Leicht hat es die Polizei nicht. Laut Göppert vergeht oftmals viel Zeit, bis es zu einer Anzeige kommt. „Bisweilen fehlen dann objektive Beweise für die Tat, es steht also Wort gegen Wort.“ Göppert rät daher: „Zeigen sie Taten schnellstmöglich an.“ Inzwischen bietet der Medizin-Campus Bodensee auch die Möglichkeit, anonym Spuren nach sexuellen Straftaten zu sichern und aufzubewahren. So lange, bis die Betroffenen zur Anzeige bereit sind.
Doch auch wer erst später die Kraft dazu findet, kann juristisch Erfolg haben: Das einst junge Mädchen, das von ihrem Bruder missbraucht worden ist, ließ nach Jahren ein Strafverfahren gegen ihn einleiten. Mit Erfolg.