Die großen Gewerkschaften schrumpfen. Die IG Metall (IGM) verlor deutschlandweit im Vorjahr gut 45.000 Genossen, Verdi gar 47.000. Kein Wunder also, dass auch der Deutsche Gewerkschaftsbund, zu dem sowohl IGM als auch Verdi gehören, Schwund vermeldet: Knapp 121.000 Mitglieder weniger waren es Ende 2021 im Vergleich zum Vorjahr. Doch bei den Genossen am Bodensee sieht es teils anders aus.
Mitgliederrekord in Oberschwaben
„Oberschwaben im zweiten Jahr in Folge mit Mitgliederrekord“ vermeldete etwa die IG Metall im Januar 2022. Bis zum Jahresende, so die Metaller, schlossen sich 1592 neue Mitglieder an – insgesamt gehören zu ihr nun 16.504 Personen. Auch der hiesige DGB, zuständig für die Region Bodensee-Oberschwaben, vermeldete positive Zahlen: Ende 2021 zählte er 28.150 Genossen – immerhin ein Plus von 3,55 Prozent im Vergleich zu 2017. Wie kommt das?

Klar ist, dass diese guten Ergebnisse vor allem an den Metallern der IGM liegen. Denn, so Frank Kappenberger vom hiesigen DGB: „Sie sind die größte Vereinigung in der Region, wie auch deutschlandweit.“ Insgesamt acht Gewerkschaften vereint der DGB unter seinem Dach. Die IGM stellt gut 40 Prozent aller Genossen, etwa 30 Prozent kommen von Verdi. Die hat, laut Angaben von Jutta Aumüller, der stellvertretenden Geschäftsführerin im Bezirk Ulm-Oberschwaben, zumindest keine herben Verluste eingefahren. Somit hatten ihre Zahlen keinen negativen Einfluss auf den Zuwachs beim DGB. Was also machen die Metaller richtig?
Beistand während der Corona-Krise
Frederic Striegler ist zweiter Geschäftsführer bei der IGM Friedrichshafen-Oberschwaben. „Wir konnten in der Corona-Krise viel Gutes für die Beschäftigten tun“, ist er sich sicher. Während des ersten Lockdowns im Jahr 2020 haben er und seine Genossen täglich Gespräche mit hiesigen Betriebsräten geführt – und mit ihnen etwa für Gehaltsaufstockungen beim Kurzarbeitergeld gekämpft. „In dieser schwierigen Zeit haben uns die Kollegen gebraucht – und wir waren für sie da.“ Anders formuliert: Andere Gewerkschaften konnten hier weniger punkten.

„Wir halten uns gerade so“, sagt etwa Jutta Aumüller von Verdi, wenn sie auf die Anzahl ihrer Mitglieder in der Region Ulm-Oberschwaben angesprochen wird. Die Pandemie hat ihrer Gewerkschaft zu schaffen gemacht. „Zum Beispiel beim Öffentlichen Dienst: Wir konnten in kein Rathaus, in kein Landratsamt.“ Somit sei der Kontakt zu potenziellen neuen Mitgliedern schwer herzustellen gewesen. Andere seien aus der Verdi ausgetreten, um die Beiträge zu sparen – obwohl Gewerkschaftsarbeit besonders während der Krise wichtig gewesen sei. Warum die Metaller hingegen gewachsen sind? „Das sind andere Menschen, eine andere Kultur“, vermutet Aumüller.
Zeitungswerbung und Akquise
Tatsächlich teilt Frederic Striegler von der IGM Aumüllers Meinung: „Wenn ich etwa mit Erzieherinnen spreche, für die die Verdi zuständig ist, merke ich: Es ist viel schwieriger sie zu motivieren, für ihre Interessen einzustehen.“ Doch was trotz etwaiger kultureller Unterschiede nicht von der Hand zu weisen ist: Striegler und seine Genossen haben sehr aktiv um Mitglieder geworben.
„Wir haben stark Akquise betrieben, haben etwa Zeitungsannoncen geschaltet und darüber informiert, wie man einen Betriebsrat gründet“, berichtet Striegler. Insgesamt acht neue Arbeitnehmer-Vertretungen seien so im Jahr 2021 entstanden: Etwa bei LTS in Tettnang oder bei Jäckle & Ess in Bad Waldsee. Auch die erfolgreichen Betriebsratswahlen bei ZF oder MTU dürfte sich positiv auf die Mitgliederentwicklung auswirken – hier konnten Vertreter der IGM Mandate hinzugewinnen. Auch die anstehende Tarifrunde im Jahr 2022 dürfte sich positiv auf die Größe der IGM auswirken, vermutet Striegler. Das erste Quartal 2022 sei bereits gut verlaufen.

Konkurrenz belebt das Geschäft
Doch auch eine kleinere Gruppierung konnte erfolgreich Mitglieder werben: Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) mit Sitz in Ulm. Marvin Weichelt, der zuständige Geschäftsstellenleiter, resümiert: „Im Raum von Ulm bis Friedrichshafen haben wir rund 4000 Mitglieder, im Jahr 2021 sind wir um 150 Personen gewachsen.“ Wie er das geschafft hat? Die Antwort klingt ähnlich wie die des Metallers Striegler: „Ich war häufig in den Betrieben draußen und habe Akquise betrieben.“ So arbeitete er etwa mit den Betriebsräten der DB Netz und der Regionalverkehr Alb-Bodensee GmbH (RAB) zusammen.
Ein Grund die besondere Motivation der EVG dürfte auch die Konkurrenz mit der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) sein, die sich ebenfalls um die Belange der Bahner kümmert – und ebenfalls Zuwächse im Raum Friedrichshafen zu verzeichnen hat. Der Hintergrund: Das sogenannte Tarifeinheitsgesetzt besagt, dass in Unternehmen mit konkurrierenden Gewerkschaften nur ein Tarifvertrag gelten darf – und zwar der der jeweils größeren. Diese Auseinandersetzung hat beide Gewerkschaften motiviert, sich um neue Mitglieder zu kümmern. Und das Beispiel zeigt – wie auch der Fall der IG Metall: Wer stark auf Akquise geht, wird belohnt.
Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, wollen die Gewerkschaften in Friedrichshafen und Ravensburg auf sich aufmerksam machen. Um 10 Uhr startet eine Veranstaltung an der Häfler Seemuschel am Bodenseeufer. Als Sprecher ist etwa Achim Dietrich, Betriebsratschef bei der ZF, angekündigt. In Ravensburg startet der 1. Mai mit einer Demonstration vom Bahnhofsvorplatz, um 11 Uhr ist auf dem Marienplatz eine Kundgebung geplant. Als Hauptredner kommt Andreas Schackert, Verdi-Landesfachbereichsleiter Verkehr in Baden-Württemberg.