Eigentlich wollte der Angeklagte seinen Hund mit in den Gerichtssaal nehmen und zwischendurch Gassi gehen. Amtsrichter Alexander von Kennel gefiel diese Idee aber gar nicht – und auch seine Verteidigerin riet dem Angeklagten davon ab. Denn Hunde haben in Gerichtsgebäuden Hausverbot. Ohnehin wäre der Plan nicht aufgegangen: Der Angeklagte musste während des Prozesses durchgehend im Saal sitzen, Zeit für Gassi-Pausen hätte er nicht gehabt. Doch wohin mit dem Tier? Kurz vor Beginn fand der 21-Jährige eine Lösung: Das Tier wartete vor dem Gebäude mit einem der befreundeten Zeugen.
Würgegriff nach gescheitertem Kussversuch
Schwitzend und mit rotem Kopf saß der Angeklagte im Gerichtssaal. Sexuelle Nötigung und Körperverletzung sowie Körperverletzung in einem anderen Fall wurden ihm vorgeworfen. Im Rahmen einer Hausparty soll er im August 2022 eine etwa gleichaltrige Frau nach einem gescheiterten Kussversuch gewürgt haben. Zuvor soll er vergeblich versucht haben, sie zum Sex zu bewegen. Außerdem soll er im Mai 2022 einen Mann bei einer Auseinandersetzung in der Überlinger Altstadt am Arm verletzt haben.
Der Angeklagte war dem Gericht auch jenseits dieser Delikte bekannt: Er hatte mehrere Geldbußen von der Stadt erhalten, die er seit Langem nicht bezahlt hatte, unter anderem wegen Verstößen gegen Corona-Auflagen. Der Amtsrichter zeigte dem Angeklagten den großen Aktenstapel und fragte: „Warum muss man Ihnen so hinterherlaufen? Warum sind Sie so unzuverlässig?“
„Der Hund ist sein einziger emotionaler Halt“
Der 21-Jährige antwortete ausschweifend, erklärte, warum es in seinem Leben überhaupt so weit gekommen sei. Seine Biografie erscheint wie eine Reihe von Abbrüchen und Misserfolgen: Er sei einst unfreiwillig von zu Hause ausgezogen, in einer Pflegefamilie untergekommen, habe eine Ausbildung abgebrochen. Wegen der Liebe sei er an den Bodensee gekommen, die Beziehung sei gescheitert und er habe danach keinen Job gefunden. Aktuell mache er eine Ausbildung und besuche die Berufsschule. Und: Er gehe jeden Morgen um vier Uhr mit seinem Hund Gassi. „Der Hund ist sein einziger emotionaler Halt“, fügte seine Verteidigerin an.

Der Amtsrichter zeigte sich davon unbeeindruckt. „Trinken Sie Alkohol?“, fragte von Kennel. Der 21-Jährige schüttelte den Kopf. Bei beiden Delikten habe er aber unter Alkoholeinfluss gestanden, gab er zu. Bei dem Vorfall mit der Frau habe er einen Filmriss gehabt, bekomme die Abläufe von dem Abend nicht mehr zusammen. Ohnehin hätte sich die Geschädigte das alles nur ausgedacht und die Hämatome geschminkt, bevor sie bei der Polizei Anzeige erstattete. Von Kennel zeigte sich bei den Vorwürfen skeptisch und die Verteidigerin zischte den Angeklagten an: „Das können Sie so nicht sagen, darüber haben wir doch gesprochen!“
Dieser Moment ändert den Prozessverlauf
Bei einem Blick in die Akte des 21-Jährigen fiel auf, dass ein Psychiater dem Angeklagten im Rahmen eines vorigen Verfahrens eine Alkoholerkrankung und eine narzisstische Persönlichkeitsstörung attestiert hatte. Kurioserweise wussten davon weder seine Verteidigerin noch Amtsrichter oder Staatsanwalt. Auch der Angeklagte zeigte sich überrascht. Er fragte: „Könnte ich das ausgedruckt bekommen?“ Seine Verteidigerin entgegnete: „Das müssten Sie doch bereits ausgedruckt haben.“
Um nun zu einem Urteil zu kommen, hätte der Prozess unterbrochen und ein psychiatrisches Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit beantragt werden müssen. Da es aber Monate dauere, bis ein solches Gutachten erstellt sei, wollten Richter und Staatsanwalt diesen langen Weg gar nicht erst gehen.
Junger Mann muss zur Suchtberatung
Schließlich entschied Amtsrichter von Kennel nach Anhörung von Staatsanwalt, Verteidigerin und Jugendgerichtshilfe, das Verfahren vorläufig einzustellen. Der Angeklagte, bei dem noch das Jugendstrafrecht galt, wurde dazu verpflichtet, wegen seiner Alkoholprobleme für ein Jahr zu monatlichen Sitzungen einer Suchtberatung zu gehen. Sollten Anschlussmaßnahmen erforderlich sein, wird er auch diese wahrnehmen müssen. Außerdem soll er an einem Förderprojekt für Jugendliche teilnehmen und beim Gericht Nachweise dafür vorlegen. Sollte er diesen Auflagen nicht nachkommen, wird der Prozess wieder aufgenommen.
„Das mit dem Hund hat mich gestört“
Abschließend kam Amtsrichter von Kennel nochmals auf die Bußgeldescheide und den Vierbeiner zu sprechen. „Da muss jetzt endlich mal was laufen, da sind Sie in der Pflicht“, sagte er. „Und das mit dem Hund, das hat mich auch gestört.“ Der Angeklagte nickte und zeigte sich einsichtig.