Zur größten Not: „Wenn es ums Überleben geht, würde ich auch containern.“ Das sagte ein 76-jähriger Mann am Mittwoch vor dem Tafel-Laden in Überlingen. Aufmerksam verfolgt er die Initiative der beiden Bundesminister für Justiz und Landwirtschaft, die das Containern, also die Entnahme von Lebensmitteln aus Mülltonnen, nicht mehr unter Strafe stellen wollen.

Ein 76-jähriger Mann aus Überlingen, Besucher im Tafel-Laden.
Ein 76-jähriger Mann aus Überlingen, Besucher im Tafel-Laden. | Bild: Hilser, Stefan

Der 76-Jährige ist seit zehn Jahren Kunde bei der Tafel. Auf dem Rücken trägt er einen Rucksack, in den er die Ware steckt. Das Angebot sei immer gut, lobt er. Wenn es das Angebot der Tafel nicht gäbe, könne er sich vorstellen, dass er zum Containern geht.

„Heilfroh, dass es die Tafel gibt“

Der 76-Jährige trägt einen seltenen Namen, der sich leicht googeln lässt. Zum Schutz seiner Familie nenne er ihn deshalb nicht. Er stehe aber dazu, dass er Tafel-Kunde ist, weshalb er sich für diesen Bericht gerne fotografieren lasse, um öffentlich kund tun zu können: „Ich bin heilfroh, dass es die Tafel gibt.“

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Norbert Sieveking ist Angestellter der Caritas bei der Tafel. „Bis jetzt sind die Kunden mit unserem Angebot zufrieden. Containern in Überlingen ist nicht nötig.“ Momentan zumindest nicht. „Wie es sich weiterentwickelt, muss man sehen.“

„Containern in Überlingen ist nicht nötig“, meint Norbert Sieveking von der Tafel.
„Containern in Überlingen ist nicht nötig“, meint Norbert Sieveking von der Tafel. | Bild: Sabine Busse

Er stelle bei den Supermärkten fest, dass sie anfingen, „gezielter zu disponieren“. Sprich, so beim Wareneinkauf zu kalkulieren, dass am Ende des Tages weniger weggeworfen werden muss.

Kistenweise Bananen: Zum Wegschmeißen viel zu schade, an der Tafel in Überlingen finden sie dankbare Abnehmer.
Kistenweise Bananen: Zum Wegschmeißen viel zu schade, an der Tafel in Überlingen finden sie dankbare Abnehmer. | Bild: Hilser, Stefan

Was Edeka-Schmidt an die Tafel spendet

Nelly und Edgar Schmidt betreiben den Edeka-Markt am Härlen in Überlingen. Dieser zählt zu den Märkten, die regelmäßig Ware an die Tafel spenden. Darunter Lebensmittel, die kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) stehen. Oder Obst und Gemüse, das nicht mehr so gut aussieht. Wenn in einer Packung Tomaten nur eine einzelne schlecht ist, können sie die Packung nicht aufreißen und den Rest verkaufen, sondern geben solche Produkte an die Tafel. Sie achteten aber darauf, dass dort nur einwandfreie Ware ankommt.

Edgar und Nelly Schmidt, Betreiber des gleichnamigen Edeka-Geschäfts am Härlen in Überlingen, beim Blick in einen 240-Liter großen ...
Edgar und Nelly Schmidt, Betreiber des gleichnamigen Edeka-Geschäfts am Härlen in Überlingen, beim Blick in einen 240-Liter großen Container. Jede Woche müssen sie mehrere solcher Tonnen mit Lebensmitteln füllen. | Bild: Hilser, Stefan

Vieles, was noch gut wäre, müssen sie aber wegwerfen. Darunter Ware, die über dem Haltbarkeitsdatum liegt, oder Bruchware, bei der die Gefahr von Glassplittern besteht. Denn die Haftung, zum Beispiel bei einer Salmonellenvergiftung, liege nach Ablauf des MHD nicht mehr beim Hersteller, sondern beim Händler, wie Edgar Schmidt betont.

Containern gar nicht möglich, weil abgeschlossen

Jede Woche füllen sie mehrere 240 Liter große Tonnen, die von der bundesweit agierenden Entsorgungsfirma Refood abgeholt werden. Edgar Schmidt sagt, dass rund die Hälfte in diesen Containern aus Ware besteht, die über dem Mindesthaltbarkeitsdatum liegt. Die Container stehen in einem abgeschlossenen Raum. Es könnte dort also gar niemand containern.

Nelly Schmidt in ihrem Markt in Überlingen: Der Verkauf von Restposten zu vergünstigten Preisen ist eine Möglichkeit, die Ware vor der ...
Nelly Schmidt in ihrem Markt in Überlingen: Der Verkauf von Restposten zu vergünstigten Preisen ist eine Möglichkeit, die Ware vor der Vernichtung zu retten. | Bild: Hilser, Stefan

Nelly Schmidt beklagt den ganzen Prozess um das Mindesthaltbarkeitsdatum. Es sollte ihrer Ansicht nach für Produkte wie Nudeln, Reis oder Senf abgeschafft werden. Vieles davon sei noch Monate später ein Genuss. So aber landeten aus rechtlichen Gründen Produkte im Müll, die noch gut gegessen werden könnten. „Das tut uns weh, auch unseren Mitarbeitern, wenn wir das alles in den Container werfen müssen. Das sind immer noch Lebensmittel.“

Welche Verantwortung haben die Händler?

Liegt es nicht auch an ihnen als Händler, wenn im Regal zu viel steht, was keiner kauft und dann im Müll landet? Das, so sagen die Marktbetreiber Schmidt, treffe allenfalls für Backwaren zu sowie für Obst und Gemüse.

„Das System bestellt von alleine, nach Umsatz“, erklärt Edgar Schmidt, Edeka Schmidt.
„Das System bestellt von alleine, nach Umsatz“, erklärt Edgar Schmidt, Edeka Schmidt. | Bild: Hilser, Stefan

Bei allen an anderen Produkten handle es sich aber um ein „Gruppensortiment“ von Edeka. Edgar Schmidt: „Das System bestellt von alleine, nach Umsatz.“

Was müsste sich am System selbst ändern?

Was sollte sich ändern? Nelly und ihr Mann Edgar Schmidt sind sich in diesem Punkt nicht ganz einig. Sie findet, dass sie von der Haftung befreit werden sollten, womit sie Ware über dem Haltbarkeitsdatum gezielter der Tafel oder Organisationen wie To good to go oder Foodsharing überlassen könnten. Er dagegen fürchtet, dass, wenn dann doch etwas passiert, das Image von Edeka leidet. Dem würde der Konzern nie zustimmen, vermutet Edgar Schmidt.

Wie Containern zu einem politischen Akt wird

Die 31-jährige Anna-Lena Weidemann aus Überlingen hält es für ein absolutes Unding, dass Lebensmittel weggeschmissen werden. Als Studentin der Philosophie und Kulturreflexion habe sie Erfahrung beim Containern im Ruhrpott gesammelt. „In einen Mülleimer, mit richtig verdorbener Ware, der eklig ist, geht niemand rein. Meistens wird aber so viel weggeschmissen, dass man mit sauberen Händen gute Lebensmittel in die Tasche packen kann.“

Anna-Lena Weidemann aus Überlingen kennt sich aus beim Containern. Bei diesem Bild handelt es sich um eine nachgestellte Szene mit der ...
Anna-Lena Weidemann aus Überlingen kennt sich aus beim Containern. Bei diesem Bild handelt es sich um eine nachgestellte Szene mit der 31-jährigen Frau. | Bild: Hilser, Stefan

Am Container einer Bäckerei im Ruhrpott habe sie sich öfter frisches Brot besorgt. „Sie wollten bis zum Ladenschluss alle Waren vorrätig haben, und nach Ladenschluss haben sie dann alles weggeschmissen.“ Die 31-jährige Mutter engagiert sich für Foodsharing und im Verein „Überlinger Kulturschutzgebiet“. Sie sagt, dass Containern weniger aus finanzieller Not stattfinde. „Sondern aus Idealismus, aus politischen Gründen, um ein Zeichen zu setzen, dass wir anders mit Lebensmitteln umgehen müssen.“

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