Eva-Maria Bast

Was ist das nur für ein kleiner, schmucker Turm, der da, offenbar jeglicher Funktion beraubt, an der Ecke Mühlweg/In den Mühlen steht? Diese Frage haben sich viele Überlinger immer wieder gestellt, zuletzt in der Facebook-Gruppe "Du bisch von Überlingen, wenn". Antwort kann Stadthistoriker Oswald Burger geben, der im weitesten Sinne sogar einen persönlichen Bezug zu dem Türmchen hat.

Oswald Burger kennt die Geschichte dieses kleinen Turms.
Oswald Burger kennt die Geschichte dieses kleinen Turms. | Bild: Eva-Maria Bast

Die Geschichte beginnt im Mittelalter. "Damals floss der Mühlbach als Kanal, abzweigend vom Nussbach, durch den heutigen Weg In den Mühlen", sagt Oswald Burger. Dieser Kanal trieb fünf Mühlen an, die untereinander am heutigen Weg In den Mühlen standen – dort, wo sich heute die Wohngebäude befinden. Die Mühlen zogen sich bis zum See herunter, die unterste stand dort, wo sich heute die Ferienanlage "Fünf Mühlen" befindet.

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"Drei der Mühlen sind im 19. Jahrhundert abgegangen", sagt Burger. Die zweituntere Mühle, an den Bahngleisen, hatte am längsten Bestand. "Sie wurde noch bis vor etwa 50 Jahren betrieben", erzählt Burger. "Das letzte Mühlrad steht noch heute vor dem Grundstück, direkt an der Straße." Später erwarb Familie Jeckel das Grundstück, der Vater des Betreibers der Kneipe "Galgenhölzle" Michel Jeckel, hatte hier einen Gemüseladen, den er später an das Feinkostgeschäft de Sanctis vermietete.

Burger hat einen alten Briefkopf der Firma ausfindig gemacht

Und noch eine andere Mühle verschwand im 19. Jahrhundert nicht, sondern hatte Bestand: Die zweitoberste, die dort stand, wo sich der kleine, rätselhafte Turm befindet: "In dieser Mühle entstand im 19. Jahrhundert eine Fabrik für Haferprodukte", sagt Oswald Burger. "Sie wurde 1907 von der Firma Geiges und Schaaf übernommen." Burger hat einen alten Briefkopf der Firma ausfindig gemacht, auf dem das Fabrikgebäude – etwas überhöht dargestellt – zu sehen ist.

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Auch der kleine Turm ist auf der Zeichnung zu erkennen: Er diente als Fuß eines riesigen Schornsteins und stand auf einer großen, freien Fläche – dem Dörrboden. "Um Hafer haltbar zu machen, musste man ihn dörren, also auf große Roste legen und Wärme von unten zuführen", sagt Burger. "Dann konnte man den Hafer zu Flocken drücken oder ihn zu Hafermehl weiterverarbeiten." Unter den Rosten brannte ein Feuer, der dabei entstehende Rauch wurde über den Kamin abgeführt, eben jenen, für den der kleine Turm einen Fuß bildete. Etwas weiter oben gab es noch einen weiteren Schornstein samt Dörrboden.

1907 verkaufte Geiges und Schaaf an die Familie Ritter

Auf ihrem Briefkopf wirbt die Firma auch mit "präpariertem Kindermehl", das sind gemahlene Haferflocken, "Brauner Hafergrütze" und "Überlinger Kälbermehl. "Hafermehl wurde für Mensch und Tier als wertvoll angesehen", kommentiert Oswald Burger. 1907 verkaufte Geiges und Schaaf an die Familie Ritter. "Dr. Ritter war in Überlingen sehr angesehen. Er betrieb die Hafermühle viele Jahrzehnte und baute am Seubertweg ein Haus", erzählt der Historiker die Geschichte weiter. Und hier schließt sich der Bogen zu Burgers persönlichem Bezug, denn in ebenjenem Haus wohnt der pensionierte Lehrer heute.

Doch dann sank die Nachfrage nach Haferwaren

Hans Ritter Junior übernahm die Fabrik von seinem Vater. Burger hat ihn 2015 persönlich getroffen. "Er erzählte mir, dass die Produkte deutschlandweit vertrieben wurden." Doch dann sei die Nachfrage nach Haferwaren immer mehr gesunken. "Irgendwann haben sie nur noch Futterhafer hergestellt und die Firma zu einem mir nicht bekannten Zeitpunkt, ich vermute in den 1970er Jahren, aufgelöst", sagt Oswald Burger.

Den Fuß des Schornsteins aber ließ er stehen

Hans Ritter ließ die Gebäude abbrechen und einen Bungalow bauen, in den er einzog. Den Fuß des Schornsteins aber ließ er stehen. "Er hat mir erzählt, dass er noch ein Relikt als Erinnerung an die alte Hafermühle erhalten wollte. Das Dach hat er selbst aufbringen lassen", sagt Oswald Burger. Damit war der kleine ehemalige Schornsteinfuß zu einem Turm der Erinnerung geworden.