Bevor wir zu unserem Thema, dem Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule kommen, die Frage: Worauf sind Sie an Ihrer Schule besonders stolz?

Jürgen Mattmann (Schulleiter an der städtischen Gemeinschaftsschule, Wiestorschule): Auf unsere Kinder. Sie haben ein unglaubliches Potenzial, an der Grundschule per se. Aber auch an der Sekundarstufe bringen die Schüler Talente auf ganz unterschiedlichen Ebenen mit, die wir versuchen zu finden und zu fördern. Wenn wir auf unsere Schüler nicht mehr stolz sind, dann haben wir den Beruf verfehlt.

Karin Broszat (Schulleiterin an der städtischen Realschule): Stolz auf unsere Schüler sind wir an der Realschule natürlich ebenso. Außerdem sind wir stolz auf die Methodenvielfalt, mit der die Lehrer bei uns arbeiten. Es ist schön, zu beobachten, wie die Schüler davon profitieren und was aus ihnen wird, in Zeiten der Pubertät und darüber hinaus.

Hans Weber (Schulleiter am städtischen Gymnasium): Wenn ich ergänzen darf, was uns glücklich macht. Zuvorderst die Schüler und das Lehrerkollegium, das Miteinander an unserer Schule.

Interviewtermin in der Lokalredaktion des SÜDKURIER, von links: Jürgen Mattmann, Hans Weber, Dominique Grensing, Stefan Hilser, Karin ...
Interviewtermin in der Lokalredaktion des SÜDKURIER, von links: Jürgen Mattmann, Hans Weber, Dominique Grensing, Stefan Hilser, Karin Broszat. | Bild: Timm Lechler

Seit jetzt sieben Jahren gibt es keine verbindliche Grundschulempfehlung mehr, die Eltern können also frei entscheiden, auf welche Schule sie ihr Kind schicken. Ist das gut so?

Dominique Grensing (Gesamtelternbeiratsvorsitzende von Überlingen): Ich finde nicht. Es ist schon richtig, dass die Eltern wählen können. Man sollte aber trotzdem Vertrauen haben in die Grundschullehrer und deren Empfehlung für die weiterführende Schule.

Mattmann: Wir an der Wiestorschule sind abgebende Grundschule und aufnehmende Gemeinschaftsschule. Deswegen erlebe ich beide Seiten und glaube, dass es kein klares Ja oder Nein gibt. Ich glaube, dass die Beratung und Empfehlung der Grundschule von den Eltern im Allgemeinen gut angenommen wird. Hinter der vermeintlichen Freiheit für die Eltern steckt auch eine große Verantwortung.

Weber: Um die Eltern in ihrer Verantwortung zu stärken, gibt es ein entsprechendes Beratungsangebot. Wenn man das Ziel ernst nimmt, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, dann sehe ich die Abschaffung der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung positiv. Ich sehe aber auch Schwierigkeiten, gerade bei Eltern, die von Geburt an wissen, welchen Schulweg ihr Kind einmal einschlagen wird, die aber den Blick auf das eigene Kind übersehen. Das aber ist die Minderheit. Die Mehrzahl der Eltern überlegt verantwortungsbewusst und hat eine hohe Meinung von dem, was die Grundschullehrer empfehlen.

Broszat: Es ist kein Geheimnis, dass ich für eine Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung bin. Ich halte sehr viel von der Einsicht, die die Grundschullehrer in vierjähriger Begleitung der Kinder gewinnen. Meist setzen sich auch weniger die Eltern bewusst über die Empfehlung der Grundschule hinweg. Vielmehr wollen die Kinder – aus ihrer kindlichen Sicht verständlich – mit ihren Freunden zusammen bleiben. Da wird von Eltern viel verlangt, wenn sie sich über den Wunsch ihres Kindes hinwegsetzen sollen. Die Situation wäre entspannt, wenn sich die Eltern wieder auf die Expertise der Grundschule und deren Verbindlichkeit berufen könnten. 

Dominique Grensing über Schulempfehlung Video: Stefan Hilser

Welche Schüler auf welche Schule? Wir haben die Schulleiter von Gemeinschaftsschule, Realschule und Gymnasium Überlingen gebeten, schriftlich die Frage zu beantworten, welche Schüler sich typischerweise denn nun bei ihnen anmelden (sollten).

Die Realschulrektoren haben die Wiedereinführung der Verbindlichkeit gefordert. Frau Broszat, Sie sind Landesvorsitzende im Realschullehrerverband. Antworten Sie in dieser Funktion oder als Realschulrektorin von Überlingen?

Broszat: Zunächst antworte ich hier als Rektorin der Realschule Überlingen, wobei sich beide Ämter naturgemäß überschneiden können. Ich führe viele Gespräche mit Eltern, die mit einer abweichenden Empfehlung an die Realschule kommen und dem Drängen ihrer Kinder nachgegeben haben. Mittlerweile können wir Schulleiter die Empfehlung zumindest wieder einsehen. Davor kamen die Kinder ohne Bildungsbiographien, obwohl sie schon vier Jahre eine Schule besucht hatten. Das war eine Katastrophe.

Interviewtermin in der Lokalredaktion Überlingen: Schulleiterin Karin Broszat im Gespräch mit Stefan Hilser.
Interviewtermin in der Lokalredaktion Überlingen: Schulleiterin Karin Broszat im Gespräch mit Stefan Hilser. | Bild: Timm Lechler

Die Arbeitsgemeinschaft der Gemeinschaftsschulen warf den Realschulen „Rosinenpickerei“ vor, weil sie sich um die schwächeren Schüler nicht kümmern wollten. Herr Mattmann, schließen Sie sich dieser Kritik an?

Mattmann: Schwierig. Ein Statement zu einer pauschalen Aussage wie dieser möchte ich ungern abgeben. Flächendeckend trifft das sowieso nicht zu. Und auf unseren lokalen Kontext bezogen: Es gibt genügend Beispiele, dass die Schulen in Überlingen in engstem und bestem Dialog stehen, um für jedes Kind das beste Angebot zu fahren. Wir haben alle den gleichen Auftrag. Wir sind da für die Kinder der Stadt, die uns zugeteilt sind, sie am besten zu fördern und zu fordern.

Frau Broszat, die Kritik an den angeblichen „Rosinenpickern“ hat einen Hintergrund. Es geht um den Hauptschulabschluss, den die Realschulen neuerdings mit anbieten müssen, womit die Realschulen aber nicht glücklich sind (weil man sie zu Quasi-Gemeinschaftsschulen macht). Wären Sie dafür, den Hauptschulabschluss an der Realschule wieder abzuschaffen?

Broszat: Ja, wenn gewährleistet ist, dass die so wichtigen Hauptschulen gestärkt werden und nicht weiter wegsterben. Dafür muss aber unser bewährtes differenziertes Schulwesen politisch gewollt sein und unterstützt werden. Es ist also eine bildungspolitische Frage.

Weber: Und eine gesellschaftliche. Die Frage ist ja, welche Schulform wird nachgefragt? Die Tatsache, dass die Hauptschule massiv eingebüßt hat, zeigt, dass sie gesellschaftlich nicht mehr nachgefragt war.

Das könnte Sie auch interessieren

Frau Grensing, schon alleine diese Diskussion zeigt doch, dass im Baden-Württembergischen Schulsystem ein großes Durcheinander herrscht. Wie sollen Eltern da noch mitkommen?

Grensing: Schwierig. Ich finde, jede Schulart hat ihre Berechtigung. Und ich bin froh, dass es jede Schulart hier in Überlingen gibt. Jeder will seine Schulart am besten verkaufen, damit er genügend Anmeldungen hat, natürlich möglichst von Schülern, die gut zur Schulart passen.

Dominique Grensing plädiert dafür, die Grundschulempfehlung sehr ernst zu nehmen. Hier im Gespräch mit Stefan Hilser und Karin Broszat.
Dominique Grensing plädiert dafür, die Grundschulempfehlung sehr ernst zu nehmen. Hier im Gespräch mit Stefan Hilser und Karin Broszat. | Bild: Timm Lechler

Hören Sie als Elternvertreterin auch von schlaflosen Nächten, mit denen sich Viertklässler-Eltern plagen, weil sie sich nicht entscheiden können?

Grensing: Ja, viel, oft. Manche Eltern plagen sich mit der Sorge, dass das Gymnasium zu anstrengend für ihr Kind sein könne, auch wenn es die Gymnasialempfehlung hat. Dann sage ich: Das hat schon einen Grund, warum Dein Kind eine Gymnasialempfehlung hat. Vertraue darauf. Und dann gibt es Eltern, die sich um ihr Ansehen Sorgen machen: „Hä, was sagen denn die Leut‘, wenn mein Kind auf die Gemeinschaftsschule geht?“ Dann sage ich: Jede Schulart hat ihre Berechtigung. Und ich halt es für falsch, die Verantwortung auf die Kinder abzugeben und sie an einer Schule anzumelden, die nicht empfohlen wurde.

Dann würden Sie dem Satz also zustimmen: Die Eltern sollen sich einfach an das halten, was die Grundschule empfiehlt, und sich selbst keinen großen Kopf machen.

Grensing: Ja, absolut.

Broszat: Die Grundschulempfehlung steht ja nicht isoliert. Sie ist verbunden mit ausführlichen Gesprächen und Hinweisen darauf, welche Form des Lernens den Kindern möglicherweise schwer fällt und was sie besonders gut können. In all den Jahren, in denen es die Verbindlichkeit noch gab, habe ich als Lehrerin und Rektorin nur sehr wenige Fälle erlebt, in denen die Empfehlung der Grundschulkollegen nicht stimmte. Das Schulsystem in Baden-Württemberg ist offen, Übergänge sind immer möglich, wenn ein Schüler an einer Schulart über- oder unterfordert ist.

Weber: Die Übergänge funktionieren aber nur in den ersten Jahren, und nur in eine Richtung. Je ausdifferenzierter der Fächerkanon, umso schwieriger ein Wechsel an eine andere Schule.

Broszat: Wir sollten den Eltern die Befürchtung nehmen, dass eine Entscheidung für die eine oder andere Schule das Ende der Bildungsbiographie darstellt. Das Gegenteil ist der Fall.

Grensing: Ich erlebe verunsicherte Eltern, die eine Entscheidung treffen nach dem Motto: Jetzt versuch‘s halt mal. Doch wenn der Schüler dann vom Gymnasium auf die Realschule wechseln muss, wird das als ein persönlicher Abstieg gewertet. Ich finde es nicht richtig, wenn Eltern ihre Kinder pushen und sagen: Jetzt versuch‘s halt mal am Gymnasium, obwohl dafür die Empfehlung fehlt.

Kontroverse Diskussionen beim Gespräch über die richtige Schulwahl, von links: Jürgen Matttmann, Hans Weber, Dominique Grensing.
Kontroverse Diskussionen beim Gespräch über die richtige Schulwahl, von links: Jürgen Matttmann, Hans Weber, Dominique Grensing. | Bild: Timm Lechler

Wird der Wahl der Schulart zu viel Bedeutung beigemessen?

Broszat: Die Eltern müssen wissen: Wechsel sind möglich. Zum Beispiel von der Realschule aufs Aufbaugymnasium. Es gab schon immer die Möglichkeit, je nach Entwicklung die Schulart zu wechseln.

Weber: Schon richtig. Ich sehe darin aber vor allem ein Argument der Realschule. Es gibt nachvollziehbare Sorgen von Eltern, ihr Kind könne überfordert werden, so dass sie es trotz Gymnasialempfehlung vorsichtshalber an der Realschule anmelden und sagen, es könne später immer noch wechseln. Hier sei die Frage erlaubt, ob für die Schüler damit eine optimale Förderung möglich ist? Für mich ist es schon etwas anderes, ob ich von Klasse fünf an für acht Jahre auf dem gymnasialen Niveau unterrichte mit entsprechender Progression (Weiterentwicklung) oder nicht.

Broszat: Es gibt auch Eltern, die darauf Wert legen, dass ihr Kind neben der Schule ausreichend Zeit für andere Beschäftigungen hat, Leistungssport zum Beispiel. Das Abitur kann es im Anschluss an die Realschule problemlos an einem der Beruflichen Gymnasien machen. Eltern sollen und dürfen sich darüber Gedanken machen.

Weber: International erfolgreiche Leistungssportler, die gibt es auch bei uns am Gymnasium. Mir geht es um den individuellen Blick auf das jeweilige Kind – geschärft durch die Sicht von Grundschullehrern und möglicherweise Beratungslehrern, und von Eltern, die man aus dieser Verantwortung nicht herausnehmen kann.

Grensing: Jede Schulart hat ihre Berechtigung. Das größte Problem ist der soziale Druck, unter dem schon die Kinder stehen. Die Leute haben ein falsches Bild: Es ist kein rauf oder runter zu einer anderen Schulart, sondern ein anderes Lernen.

Mattmann: Die Wiestorschule hat ihren Ruf, den sie nun einmal hat, die Ursachen gehen weit zurück in die Vergangenheit. Für uns ist es schwer, die Metamorphose von der Hauptschule und der Werkrealschule zur Gemeinschaftsschule zu vermitteln. Wie in Überlingen klar machen, dass wir heute ganz anders arbeiten als früher? Unsere Stärke ist es, die Schüler in ihrer Unterschiedlichkeit mitzunehmen. Natürlich haben wir weiterhin viele Schüler, die den Hauptschulabschluss anstreben. Ein neues Schild an der Türe macht ja noch keine anderen Schüler. Aber im Innenleben unserer Schule, sofern es uns die Räumlichkeiten erlauben, leisten wir heute eine ganz andere Arbeit.

Jürgen Mattmann, Schulleiter an der Gemeinschaftsschule, beim Interviewtermin in der Lokalredaktion des SÜDKURIER.
Jürgen Mattmann, Schulleiter an der Gemeinschaftsschule, beim Interviewtermin in der Lokalredaktion des SÜDKURIER. | Bild: Timm Lechler

Aus meiner Warte als Zeitungsredakteur habe ich in den letzten Jahren mehr und mehr den Eindruck gewonnen, dass jede Schule in der Öffentlichkeit immer noch ein bisschen mehr glänzen möchte als die andere. Für mich ist das ein Ausdruck von Konkurrenzdenken.

Mattmann: Wir eifersüchteln nicht, wir wollen alle aber eine gesunde Schülerzahl halten, und wir an der Wiestorschule wollen zweizügig bleiben, damit wir auch künftig Schule gestalten können.

Broszat: Wir alle hier identifizieren uns selbstverständlich mit unseren Schulen, wir sind Pädagogen mit Herz und Seele und setzen uns mit unseren Schularten und deren Veränderungen auseinander. Trotz aller Abgrenzungen muss man mit Blick auf Überlingen feststellen, dass wir uns untereinander äußerst gut und kollegial verständigen.

Mattmann: Ich glaube schon, dass wir auf eine professionelle Weise die uns in Überlingen anvertrauten Schüler in den Blick nehmen. Und zusätzlich muss jeder seine eigene Schulart in den Fokus rücken.

Jürgen Mattmann, Schulleiter an der Gemeinschaftsschule, beim Interviewtermin in der Lokalredaktion des SÜDKURIER.
Jürgen Mattmann, Schulleiter an der Gemeinschaftsschule, beim Interviewtermin in der Lokalredaktion des SÜDKURIER. | Bild: Timm Lechler

Welchen Wunsch formulieren Sie an die Eltern, was sollen sie bei der Schulwahl bitte berücksichtigen?

Mattmann: Immer wieder den ehrlichen Fokus aufs Kind zu richten, was habe ich beobachtet, erkannt, welche Talente hat mein Kind; das Gespräch mit der Grundschule sehr sehr ernst nehmen und dann verantwortungsvoll fürs Kind die Entscheidung treffen. Niemand ist glücklich, wenn auf dem eingeschlagenen Weg nachjustiert werden muss. Nachjustieren ist möglich, soll aber die Ausnahme bleiben.

Anmerkung der Redaktion: Im Gespräch haben wir uns darauf geeinigt, dass zur besseren Lesbarkeit des Interviews bei der Nennung von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern jeweils nur die männliche Form verwendet wird, dass stets jedoch beide Geschlechter gemeint waren.