Samstagnachmittag in Markdorf – die meisten Geschäfte haben längst geschlossen. Honar Naser arbeitet weiter. Er bedient immer noch eine Kundin. Sie interessiert sich für ein E-Bike und lässt sich technische Details erläutern. Erst Anfang Mai hat Naser sein Fahrradgeschäft in der Marktstraße eröffnet. Der 31-Jährige strahlt: „Ich bin wirklich sehr zufrieden“.

Dass es in Markdorf wieder einen Velo-Laden mit täglichen Öffnungszeiten gibt, hat sich rasch herumgesprochen – bereits in den trüberen ersten Wochen des Monats. „Mit dem Reparieren komme ich kaum noch nach“, erklärt Naser. Anders als bei so vielen Fahrradhändlern steht seine Werkstatt auch defekten Drahteseln offen, die nicht bei ihm gekauft worden sind. „Räder müssen gut laufen“, sagt Naser. Er meinte es wörtlich, bezieht sich aufs störungsfreie Drehen der Naben.

Dass es in Markdorf ein neues Fahrradgeschäft gibt hat sich herumgesprochen. Hans-Jürgen Teufel ist extra aus Weitingen angereist, um ...
Dass es in Markdorf ein neues Fahrradgeschäft gibt hat sich herumgesprochen. Hans-Jürgen Teufel ist extra aus Weitingen angereist, um sich über das Angebot über Honar Naser Angebot zu informieren. | Bild: Jörg Büsche

Das A und O des Radfahrens hat sich der gebürtige Iraker aus seiner Heimat mitgebracht. Dort erfuhr er sich zweimal hintereinander den nationalen Meistertitel im Rennradfahren: 2009 und 2010. Außerdem reparierte er als Teammechaniker auch die Rennräder seiner Mannschafts-Kollegen. Ihm mache es einfach Freude, wenn alles funktioniert, nichts am Rad Sorgen bereitet, erklärt Naser. „Man muss sich aber auch darum kümmern.“

Wie er zum Radsport gekommen sei? Einen Augenblick lang wirkt Naser, als müsse erst tief in seinen Erinnerungen suchen. Aber dann erzählt er von seinem Sportlehrer in Kirkuk. Davon dass seine Familie – wie so viele Kurden – ins ferne Erbil abgeschoben worden sei, um Platz für die arabische Bevölkerung zu machen. Naser erzählt davon, dass seine Familie nach dem Krieg wieder zurückkehren konnten nach Kirkuk. Dass das elterliche Haus jedoch gänzlich zerstört war. Bewusst habe er drei Kriege miterlebt, beim vierten Krieg, den in seiner frühen Jungend, fehlen ihm die Erinnerungen.

Vom Schulweg auf die Rennstrecke

Dann erst kommt Naser auf sein Fahrradfahren zu sprechen: Zurück in Kirkuk wollte er eine kurdische Schule besuchen. Um da hinzukommen, musste er täglich 20 Kilometer fahren. „Ich hatte ein altes Peugeot-Rennrad, blau – aus zweiter Hand von einem älteren Herren – nichts Tolles, aber immerhin mit zwölf Gängen.“ Sein Sportlehrer bekam das mit. Nebenher Sportberichte für eine Zeitung schreibend, griff der Lehrer das auf, schrieb über den Jungen, der jeden Tag mit einem blauen Rennrad zur Schule kommt. Was dann gewissermaßen der Beginn von Honar Nasers Traums von einer Radsport-Karriere war.

Sein Traum wurde wahr. Nach dem Abgang von der Schule fand Honar Naser Aufnahme in die irakische Ü-16-Mannschaft des irakischen Nationalteams. „Meine Eltern habe mich unterstützt, sich daheim um alles gekümmert“, erzählt Naser. So konnte er sich ganz auf sein Training konzentrieren. Das ebnete den Weg – bis hin zu ersten Meisterschaftserfolgen.

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Bunten Trikots waren den Salafisten zu eng

2015 entschied sich Honar Naser zur Flucht aus dem Irak. Und auch das hat etwas mit dem Radfahren zu tun. Denn Naser trainierte damals die U-15-Jugend seines Vereins. Ihm habe das mindestens soviel Spaß gemacht wie den Jugendlichen. Wie alle Jungen waren die begeistert von ihren Rennrädern, auch stolz auf ihre Trikots. Doch diese Trikots erregten Anstoß bei streng Religiösen. „Ich wurde unter Druck gesetzt“, erinnert er sich an die Warnungen aus Salafisten-Familien, denen die bunten Radtrikots ihrer Söhne schlichtweg zu eng waren. Und dann waren da ja noch die fortdauernden Kämpfe zwischen Kurden und dem IS, die Naser bewogen, die strapaziöse Flucht aus dem Irak zu waren. „Wir wussten wie gefährlich der Weg war“, sagt er. 18 Tage zu Fuß, durch Bulgarien, durch Serbien – über unbekannte Wege, nachts ohne Licht.

Edle Velos im Radgeschäft von Honar Naser.
Edle Velos im Radgeschäft von Honar Naser. | Bild: Jörg Büsche

Traum vom eigenen Fahrradgeschäft

In Deutschland angekommen, habe er dann vor der Frage gestanden. „Arbeite ich auf eine Profikarriere hin oder lerne ich einen ordentlichen Beruf?“ Einen Moment lang habe er auch über eine Sportstudium nachgedacht. Honar Naser entschied sich am Ende für eine Ausbildung. Doch zuerst musst er Deutsch lernen, bevor er die Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann antreten konnte. Dann arbeitete er in einem Radgeschäft. „Ich hatte gleich den Wunsch, irgendwann ein eigenes Fahrradgeschäft zu haben.“ Den konnte er sich in diesem Frühjahr in Markdorf erfüllen. Nach intensiven Marktbeobachtungen und Sondieren der Fahrrad-Verkehrs-Situation. Überhaupt befinde sich ja die Branche im Aufwind. E-Bikes boomen.

„Die Trennung von der Familie macht mich schon sehr traurig“, erklärt der 31-Jährige. Zum Glück gehe es allen inzwischen recht gut. Der Vater habe einen kleinen Supermarkt eröffnet, seine Mutter arbeitet mit darin. Dass ihr Sohn im fernen Deutschland unterdessen selbst Vater geworden ist, freue die Großeltern besonders. Nun hofft Naser, dass mit der Zeit auch mal ein Besuch möglich wird.