An den 27. Januar 2016 kann sich Ehsan erinnern, als wäre es gestern gewesen. Er saß in der Notunterkunft in Sigmaringen beim Mittagessen, als ein Betreuer zu ihm kam. „Herzlichen Glückwunsch“, sagte dieser zu dem minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten. „Sie kommen bei einer Gastfamilie in Überlingen am Bodensee unter.“ Ehsan freute sich.

Mit 16 Jahren musste er seine Heimat Afghanistan verlassen. Der Jugendliche wurde nach seiner Schilderung massiv bedroht. Seine Eltern seien ebenfalls ins Schussfeld der Extremisten geraten, als sie ihm die Flucht ermöglichten, und nach Pakistan geflüchtet. Zusammen mit einem weiteren Jugendlichen aus seiner Heimat, den er in der Notunterkunft kennengelernt hatte, kam Ehsan am 12. Februar 2016 bei Bettina Schmitt-Stolba und Lothar Stolba in Überlingen an. Das Ehepaar wollte beiden den Start in ein neues Leben ermöglichen.

Sprache als größtes Problem

Lothar Stolba, Jahrgang 1941, war als Kind selbst mit Flucht und Vertreibung konfrontiert. Er wollte etwas zurückgeben, sagt er. Seine Frau Bettina sah sich als Sozialpädagogin für die Aufgabe gewappnet, ahnte aber, dass es nicht einfach wird.

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Die Sprache sei das größte Problem gewesen, schildert Ehsan, der mit vollem Namen Ehsanullah Atai heißt, die erste Zeit in Überlingen. Und mit dem deutschen Essen sei er bereits in der Notunterkunft nicht klargekommen. Lothar Stolba ging gelassen mit dem Thema um und kochte für den Jungen das, was er essen konnte. „Nicht nur von den Geflüchteten ist Anpassung gefordert“, sagt er, „sondern auch ein hohes Maß an Toleranz von den Gasteltern“. Und wer es schaffe, profitiere von einer Erweiterung seines Horizonts.

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So tolerierten sie auch, dass die beiden jungen Männer lieber am Boden sitzend aßen. Doch das ist alles Vergangenheit. „Jetzt mag ich Maultaschen“, sagt Ehsan. Er hat sich eingelebt.

Wie kann man Gastfamilie werden?

Es sollte bis Mai dauern, bis Ehsan und Amir in einer Schule unterkamen. Die erste Zeit stellte sie vor eine neue Herausforderung. War der Schulbesuch in der Heimat freiwilliger Natur, galt es jetzt jeden Morgen aufzustehen. Die Unterrichtszeiten kollidierten mit den islamischen Gebetszeiten und die Einhaltung der Vorschriften im Ramadan gestaltete sich im Alltag schwierig.

Familie hilft Ehsan aus der Depression

„Ehsan ging es damals nicht gut“, erinnert sich die Gastmutter. Er wurde depressiv, wollte die Schule wechseln. Sie brachte ihn mit einem Dolmetscher zur Therapie, geholfen hat es nicht. Die Familie hielt das Tief aus, ohne Vorwürfe, Anschuldigungen, ohne eine Drohung. Es dauerte, bis Ehsan erkannte, dass er es war, der sich mehr engagieren musste. Er nahm Nachhilfeunterricht und schaffte schließlich den Hauptschulabschluss.

„Viele deutsche Gasteltern neigen dazu, vorschnell aufzugeben und reagieren enttäuscht.“
Bettina Schmitt-Stolba, Sozialpädagogin

2021 hat er in Überlingen eine Lehrstelle als Mechatroniker gefunden. Mit der deutschen Sprache und ihrer komplizierten Grammatik kämpft er zwar immer noch, aber jetzt steht er morgens gerne auf: „Ich liebe meine Arbeit und freue mich jeden Tag darauf“, sagt er und in seinem Gesicht spiegelt sich Begeisterung. Nicht nur seine Gasteltern, auch seine Lehrer hätten mit Geduld und Durchhaltevermögen an ihn geglaubt.

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„Viele deutsche Gasteltern neigen dazu, vorschnell aufzugeben und reagieren enttäuscht“, weiß Bettina Schmitt-Stolba. Aber das Spannungsfeld zwischen dem, was die jungen Menschen hinter sich gelassen haben und dem, was hier von ihnen erwartet werde, sei riesengroß.

Ziel ist die Gesellenprüfung

Die Einliegerwohnung seiner Gastfamilie ist nach wie vor Ehsans Zuhause. Von Amir musste sich die Familie trennen. „Erst hier in Deutschland stellt sich heraus, welche Traumata die Jugendlichen mitbringen“, sagt Lothar Stolba. Dazu kämen der Verlust der Herkunftsfamilie, Heimweh und Unsicherheiten. Es brauche viel Unterstützung, Helfer und Dolmetscher, um die Probleme zu verstehen.

Ehsan, mittlerweile 22, ist seit vergangenem Jahr im Besitz eines Führerscheins und darf sich das Auto der Familie leihen. Das Vertrauen, das ihm stets entgegengebracht worden sei, habe ihm viel Kraft gegeben, sagt er. Auch im Kampf mit den Behörden hat ihn seine Gastfamilie unterstützt. Lange hat es gedauert, bis Ehsan einen afghanischen Reisepass bekam. Inzwischen hat er sogar eine deutsche Aufenthaltsgenehmigung. Ehsans nächstes Ziel ist die Gesellenprüfung. Dann kann er endlich auf eigenen Füßen stehen.