Schauspielerin Dorothea Neukirchen ist vor neun Jahren von Köln nach Friedrichshafen gezogen. Seither konzentriert sie sich eigentlich mehr aufs Schreiben und auf Lesungen. Doch dann leitete ihr Agent ihr Ende Mai die Anfrage einer internationalen Casting-Agentur weiter. Sie enthielt die Beschreibung einer Szene, sonst nichts.
Das Projekt mit dem Arbeitstitel „Caravaggio“ unterlag der höchsten Geheimhaltungsstufe und die Schauspielerin wusste nicht, in welchem Zusammenhang die Szene stand, die sie spielen sollte.
Für das E-Casting machte sie mit ihrem Tablet ein Video der angefragten Szene. Die drei Patronenhülsen, die sie ihrem Kunden darin widerwillig übergibt, ersetzte sie durch kleine Batterien, ihn selbst durch ein Klebetikett auf ihrem Tablet. Als sie mit ihrem Werk zufrieden war, lud sie es auf den Server ihrer Agentur. „Die Chance, dass ich vom Bodensee einer Schauspielerin aus Berlin vorgezogen werde, war gering“, sagt Neukirchen.
Die Zusage kam im ICE
Drei, vier Wochen vergingen, nichts geschah. Am Abend vor ihrer Abreise nach Den Haag zu ihrer Enkelin kontaktierte sie der Regisseur per Zoom. Das Gespräch sei außerordentlich angenehm gewesen, erinnert sich Neukirchen, sie war positiv gestimmt. Dann, sie saß bereits im ICE, kamen die Zusage und ein Link. Dank WLAN konnte sie sich die vorangegangene Folge der „John Wick“-Filmreihe ansehen, um eine Entscheidung zu treffen.

Superstar Keanu Reeves spielt darin die Hauptrolle. Es wird furchtbar viel geschossen, eigentlich nicht ihr Ding, sagt Neukirchen. „Es war ein bisschen wie James Bond, die Action, die Bilder, die Ausstattung, ganz großes Kino.“ Davon sei sie angetan gewesen und sagte zu.
Dann musste alles ganz schnell gehen. Von Den Haag aus führte sie unzählige Telefonate mit der amerikanischen Produktionsfirma in Berlin. Eine Woche vor Drehbeginn waren Kostüm- und Maskenprobe im Studio Babelsberg angesagt. Zudem musste sie lernen, eine Waffe zu zerlegen und wieder zusammenzubauen. Die Maskenbildnerin schnitt ihr den eher biederen Pony scharf und kurz. Der sollte zu ihrer schrillen Rolle als Waffenhändlerin in der Halbwelt passen.
Keanu Reeves‘ Coach zeigt ihr, wie man eine Waffe zerlegt
In einem Kampfsport-Übungsraum wurde sie von Keanu Reeves‘ persönlichem Coach darin unterrichtet, wie man eine Pistole zerlegt. Im selben Raum trainierte der Hauptdarsteller täglich fünf Stunden lang, erzählt Neukirchen.

Ihr Training dauerte eine Woche lang. „Der Coach war hinreißend“, sagt Neukirchen. „Immer wenn etwas schief ging, hat er mich wieder aufgebaut.“ Zum Schluss habe sie nachts von der Pistole geträumt und die komplizierte Abfolge von Handgriffen im Halbschlaf ausgeführt.
Dreharbeiten von 4 Uhr nachmittags bis 4 Uhr nachts
Dann wurde es ernst. Bei 34 Grad Außentemperatur gingen in Klärchens Ballhaus die riesigen Scheinwerfer an – ohne Klimaanlage, dafür mit künstlich verstaubter Luft. Von 4 Uhr am Nachmittag bis um 4 Uhr in der Früh wurde gedreht, und das zwei Tage lang. „Drei Personen tanzten ständig um mich herum“, erzählt Neukirchen, „eine Maskenbildnerin für die Haare, eine für die Haut, eine für die Garderobe.“
Von der Wertschätzung ihrer Rolle war Dorothea Neukirchen überrascht. „Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen eigenen Wohnwagen mit meinem Rollennamen am Set.“ Das sei eine Auszeichnung, die normalerweise Hauptrollen vorbehalten bleibe.
Geprobt wurde wenig. Trotzdem passierte ihr beim Dreh nur ein einziges Missgeschick: „Ich sollte gleich zu Beginn meine Treppe herunterkommen und einen Lichtschalter betätigen“, erzählt sie. Das schien so simpel, dass es ohne Probe aufgenommen werden sollte. „Leider konnte ich den Schalter um die Ecke nicht sehen und tappte beim ersten Mal daneben.“
Nächsten Sommer wird der Film zu sehen sein
Dann kam die Szene mit der Waffe. Aufgenommen in vielen verschiedenen Kameraeinstellungen verhandelt die Waffenhändlerin mit rauer Schale und weichem Kern mit Keanu Reeves als Kunden. Während des Gesprächs zerlegt sie die Pistole, die sie ihm verkaufen will, und setzt sie wieder zusammen. Routiniert und ganz nebenbei. Für jede Aufnahme galt es, dasselbe zu tun, dasselbe zu sagen und dabei so authentisch wie möglich zu sein; eine Herausforderung, wie die Schauspielerin erklärt.
Im Sommer 2022 wird das Ergebnis – „John Wick: Kapitel 4“ – im Kino und bei der Streaming-Plattform Netflix zu sehen sein.