Etwa vor einem Jahr, am 24. Februar 2022, begann die Invasion russischer Truppen in die Ukraine. Ein Schock für die Ukrainer und die westliche Welt und alle, die in ihr leben. So auch für Yulia Lobo-Casanova, die mit 21 Jahren aus der russischen Großstadt Chabarowsk zum Studium nach Deutschland gekommen ist. Durch ein Praktikum landete sie beim Unternehmen ZF, erst in Osnabrück, später in Friedrichshafen. Ihr Mann ist Spanier, die beiden kleinen Töchter wachsen dreisprachig in Markdorf auf. Ein Leben fern des zerstörerischen Angriffskriegs und trotzdem irgendwie mittendrin.
„Ich konnte es kaum glauben“
„Als Putin die Ukraine überfiel, konnte ich es kaum glauben“, erinnert sich Yulia Lobo-Casanova, „aber eigentlich war das kein plötzliches Ereignis, sondern es hat sich lange angebahnt.“ Mit der Annexion der Krim kam die Gleichschaltung der Medien, Geschichtsbücher wurden umgeschrieben, Lehrpläne an Schulen verändert, listet die Russin auf. „Die Menschen haben seither immer weniger Freiheit, sind Putins Propaganda ausgesetzt und haben immer mehr Angst“, sagt sie. Bei ihren Heimatbesuchen, die bis 2020 regelmäßig stattfanden, sei ihr aufgefallen, dass die Stimmung bei den Russen immer depressiver wurde.

Irgendwo sitzen, sich offen unterhalten, Meinungen austauschen, wie es in Deutschland völlig normal ist? „Das trauen sich die Menschen dort nicht mehr“, sagt Lobo-Casanova. Seit 2020 war sie nicht mehr in Russland, obwohl ihre Mutter und ihre Oma noch dort leben, nahe der ukrainischen Grenze. „Ich fahre nicht mehr hin, weil ich Angst habe, aufgrund meiner Äußerungen in sozialen Netzwerken verhaftet zu werden“, sagt die zweifache Mutter. Angst. Vor Verhaftung. Vom eigenen Land. Weil man seine eigene Meinung äußert. Vorstellungen, die in einer Demokratie undenkbar sind. Und dann dieser Krieg.
Sie sind Kinder der Sowjetunion
Russland und die Ukraine. Das war für Yulia Lobo-Casanova lange eins. Ihre 90-jährige Oma ist in der Ukraine geboren, sie selbst ist ein Kind der Sowjetunion, zu der neben Belarus, der Ukraine und Russland zwölf weitere Länder gehörten. In Deutschland hat sie einen russischsprachigen Freundeskreis: Moldawier, Kasachen, Russen, Ukrainer. „Da spielen Staat oder Regierung überhaupt keine Rolle, wir sehen uns als Menschen mit einer gemeinsamen Vergangenheit in der UDSSR“, erklärt die 39-Jährige.
Nach dem Schock über den Kriegsbeginn habe sie eine Phase der Verdrängung durchlaufen, erinnert sich die Projektmanagerin. Schließlich kamen die Emotionen. „Wir haben alle viel geweint in dieser Zeit“, erinnert sich Lobo-Casanova. Es entstand der starke Wunsch, sich zu engagieren. Irgendwie zu helfen. Im Familientreff Insel in Friedrichshafen begannen Lobo-Casanova und ihre Freunde Spenden zu sammeln, Transporte zu organisieren, um Geflüchtete an der polnischen Grenze abzuholen.
Als die ersten Geflüchteten kamen, vorrangig Frauen mit Kindern, gründeten sie eine Whatsapp-Gruppe, um niederschwellig mit Übersetzungen zu helfen. „Wir begleiten die Frauen mit ihren Kindern zum Arzt, zur Schule, in Behörden“, erzählt die zweifache Mutter. Sie selbst versteht Ukrainisch gut, spricht es aber nicht. Da aber die meisten Ukrainer ohnehin Russisch können, gibt es zwischen ihnen keine Sprachbarrieren.
Sie alle hoffen auf einen ukrainischen Sieg
Über diesen Weg lernte Yulia Lobo-Casanova auch ihre mittlerweile beste Freundin kennen. Eine Ukrainerin, geflüchtet aus Kiew. „Ihr Mann ist Russe. Er ist in Kiew geblieben, weil er als Arzt vor Ort helfen muss“, sagt Yulia Lobo-Casanova. Sie alle hoffen auf einen ukrainischen Sieg. In den russischen inneren Kreisen gebe es Unruhen, Putin sei zunehmend geschwächt. „Das Beste, was passieren kann, ist, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt“, so die Russin. Eigentlich sei sie Pazifistin, erklärt Yulia Lobo-Casanova, „aber der Aggressor spricht keine andere Sprache und es gibt keine andere Wahl, als die Ukraine durch Waffenlieferungen zu stärken“.
Der Krieg, er wird nicht nur in der Ukraine geführt, sondern auch in den sozialen Medien. Yulia Lobo-Casanova ist viel in russischsprachigen Netzwerken und Gruppen unterwegs, auf Instagram, Telegram. „Es gibt sowohl bei den Russen als auch bei Ukrainern Menschen, die diesen Krieg unterstützen und viel Hass verbreiten“, berichtet die 39-Jährige. Lobo-Casanova schreibt dagegen an, versucht Aggression zu nehmen, zu trösten. Aggression komme von Leid – und das müsse endlich ein Ende haben, sagt sie. Eine Hoffnung, die Lobo-Casanova und ihre Freunde antreibt, den Frieden mit allen ihren verfügbaren Mitteln zu unterstützen.