Es muss nicht das teure Überlingen sein. Karin Anderson und ihr Partner Stefan Rehm suchen praktisch überall nach einer bezahlbaren Wohnung, Hauptsache, sie kommen endlich aus der Obdachlosenwohnung raus, in der sie seit fast vier Jahren leben. Überlingen wäre ihr Wunschort, und das hätte auch fast geklappt.

Stefan Rehm stammt aus Überlingen, er wuchs im Ostbahnhof auf, wie er berichtet. Am Burgberg wurde ihnen sogar eine Wohnung angeboten, im April dieses Jahres, nach jahrelanger Suche. Jedoch lief zwischen der Familie und der Sozialbehörde im Landratsamt einiges schief. Die Behörde räumt ein, dass übersehen worden ist, dass das Paar ein Kind hat, und sie eigentlich eine viel höhere Unterstützung hätten bezahlen können, mit der auch die Wohnung in Überlingen drin gewesen wäre. Wie kann so etwas passieren?

Behindert seit einem Verkehrsunfall

Zunächst ein Blick auf das Paar, das seit dreieinhalb Jahren in einer Obdachlosenunterkunft in Bad Buchau unterkommt – ohne ihre Tochter, für die es derzeit keinen Platz gebe.

Karin Anderson und Stefan Rehm in ihrer Obdachlosenunterkunft in Bad Buchau.
Karin Anderson und Stefan Rehm in ihrer Obdachlosenunterkunft in Bad Buchau. | Bild: Hilser, Stefan

Karin Anderson, Jahrgang 1974, ist seit neun Jahren auf den Rollstuhl angewiesen, Autounfall, beide Beine verloren. Früher hatte sie in Ravensburg ein Studio als staatlich geprüfte Modedesignerin geführt, dann brannte die Bude ab, sie war nicht versichert, überschuldete sich – „ich fing als Sozialhilfeempfängerin noch einmal ganz von vorne an, bei null“ – und dann kam der Autounfall, der sie zu einem schwerbehinderten Menschen machte.

Seit fast vier Jahren in der Obdachlosenunterkunft

Sie lebte in einem Haus in Bad Buchau, wurde von ihrem Freund verlassen, dann lernte sie den 14 Jahre jüngeren Stefan Rehm kennen, Verkäufer im Einzelhandel, Gelegenheitsjobs als Autoaufbereiter und Reinigungskraft. Sie bekamen ein Kind. „Unsere Hanna hat das Glücksgen, Trisomie 21“, beschreiben sie liebevoll.

Aus ihrer damaligen Wohnung in einem Haus in Bad Buchau mussten sie ausziehen, als das Kind wenige Monate alt war. Ihr Vermieter wollte sie los haben. Sie hätten Mietschulden gehabt, die ihr Vermieter dadurch ausgeglichen habe, dass er Einrichtungsgegenstände der jungen Familie zurückbehielt. Und so kamen sie mit nichts als ein paar Habseligkeiten in der Obdachlosenunterkunft in Bad Buchau an. Dreieinhalb Jahre ist das jetzt her.

Karin Anderson und Stefan Rehm sind für sich und ihre vierjährige Tochter, die aktuell in einer Pflegefamilie untergebracht ist, auf der ...
Karin Anderson und Stefan Rehm sind für sich und ihre vierjährige Tochter, die aktuell in einer Pflegefamilie untergebracht ist, auf der Suche nach einer neuen Wohnung. Bislang leben sie in einer Obdachlosenunterkunft in Bad Buchau, wo es nach ihrer Beschreibung keinen Platz für die Vierjährige gibt. | Bild: Hilser, Stefan

Im Gegensatz zu Überlingen ist die Obdachlosenunterkunft in Bad Buchau nicht an die Peripherie der Stadt gedrängt worden, sondern steht mitten im Städtchen, quasi im Schatten des Buchauer Schlosses. Die Anbindung ans tägliche Leben sei hier ideal, sagen sie. Doch die Zustände, in denen sie hausen, sind für das Paar unerträglich: Ihre 15 Quadratmeter Wohnfläche (plus Badezimmer und Kochnische) sind so klein, dass ein vernünftiges Bett für sie keinen Platz findet. „Wir müssen zu zweit in einem nur einen Meter breiten Bett schlafen“, sagt Stefan Rehm.

Leben auf 15 Quadratmetern

Wäre das Bett viel breiter, könnte seine Frau dort kaum noch mit dem Rollstuhl rangieren. Ihre 15 Quadratmeter sind zu klein für vernünftige Schränke, sie leben großteils aus Kisten, „die beigen wir ständig vom einen Eck ins andere Eck, überall sind sie im Weg“, sagt Karin Anderson. Sie sagt das ohne Groll in der Stimme, eher mit Resignation. Am schlimmsten für das Paar ist es aber, dass ihre 15-Quadratmeter-Wohnung zu klein ist – für ihre Tochter.

Sie gaben die Vierjährige in eine Pflegefamilie. „Freiwillig“, wie sie betonen. Das Sorgerecht liege bei ihnen, sie dürften Hanna auch jede Woche sehen, verbringen so viel Zeit wie möglich mit ihr. Nur, ein gemeinsames Leben in der viel zu kleinen Obdachlosenunterkunft ist für sie nicht vorstellbar.

Unterstützung für 2935 Familien im Bodenseekreis

Extrem beengte Verhältnisse

Dass so kein Mensch im reichen Süddeutschland leben will, und dass hier die Gesellschaft auch nicht einfach nur zuschauen sollte, bedarf aus Sicht des Paares eigentlich keiner weiteren Erklärungen mehr. Wer es sich aber dennoch nicht vorstellen kann, unter welchen Umständen das Paar leben muss, dem öffnet es bereitwillig die Wohnungstüre.

Die Öffentlichkeit solle sehen, dass sie ihre Badtüre aushängen mussten, weil für ein Rangieren mit dem Rollstuhl hier kein Platz wäre. Die Öffentlichkeit solle auch sehen, wie es aus dem defekten Abwasserrohr tropft. Immer dann, wenn die Familie im Stockwerk über ihnen die Toilettenspülung zieht, drückt es bei ihnen aus der Wand. Handtücher unter ihrer Toilettenschüssel saugen es auf, wie sich bei einem Besuch vor Ort herausstellt.

Anderson öffnet ihre Türe Video: Hilser, Stefan

Ihre Ansprüche sind nicht groß

50 Quadratmeter vielleicht, dann könnten sie Hanna wieder zu sich nehmen, so ihre Vorstellung. Die Wohnung muss rollstuhlgerecht sein, mehr setzen sie nicht voraus. Seit Jahren suchen sie, im Umkreis von über 100 Kilometern. „Fünf Bewerbungen pro Woche“, sagt Karin Anderson. In drei von fünf Fällen werden sie ignoriert, in den weiteren Fällen erhalten sie eine Absage. Es werden Wohnungen als barrierefrei angeboten, die es dann nicht sind. In einem Telefonat teilte man ihnen mit: „Einen Rollstuhl wollen wir nicht im Haus, ein behindertes Kind erst recht nicht.“

Ihre beiden schwarzen Katzen, sagt das Paar, würden sie abgeben, wenn der neue Vermieter keine Tiere möchte.
Ihre beiden schwarzen Katzen, sagt das Paar, würden sie abgeben, wenn der neue Vermieter keine Tiere möchte. | Bild: Hilser, Stefan

Im Frühjahr dieses Jahres, Corona machte sich gerade breit, machten sie ihre erste positive Erfahrung nach jahrelanger Suche. Eine Vermieterin bot ihnen am Burgberg in Überlingen eine Zweizimmerwohnung an, aus ihrer Sicht ein Traum auf 75 Quadratmetern. Karin Anderson: „Aber leider hat die Zusammenarbeit mit dem Jobcenter nicht funktioniert.“

Was war da los?

Die Wohnung hätte auf dem Papier mehr gekostet, als ihnen an Unterstützungsleistungen vom Jobcenter zugestanden hätte. So beschreibt es die betroffene Familie. Sie besitzen einen Wohnberechtigungsschein. Die Differenz zwischen Förderung und tatsächlicher Miete hätten sie mit dem Pflegegeld für Frau Anderson und mit den bescheidenen Einkünften von Herrn Rehm begleichen können, sie hätten alles zusammengekratzt, was möglich gewesen wäre, um nur raus zu kommen aus der Obdachlosenunterkunft.

Doch erschwerend kam hinzu, dass ihnen das Jobcenter die Übernahme der Kaution und der Umzugskosten verwehrte. An diesen hohen Fixkosten seien sie letztlich gescheitert.

Was sagt die Behörde?

Das Jobcenter ist im Bodenseekreis als Behörde im Landratsamt integriert. Wir befragten den Pressesprecher des Landratsamtes in Friedrichshafen. Robert Schwarz bestätigte, dass in Fällen, in denen die Mietkosten vom Jobcenter als unangemessen erachtet werden, die Wohnungsbeschaffungskosten – also Dinge wie Kaution und Umzugskosten – nicht erstattet werden. Das stehe so in Paragraph 22 des Sozialgesetzbuchs.

Entscheidender in diesem Fall ist aber die Frage, welche Mietkosten der Familie denn tatsächlich zugestanden hätten? Hätte die Behörde die geforderte Miete nicht eben doch als angemessen betrachten, und dann auch Kaution und Umzugskosten übernehmen müssen? Bei näherer Betrachtung ist das wohl so.

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Um das Kernproblem in diesem Fall mit wenigen Worten zu erklären: Die Behörde hat übersehen, dass zu dem Paar ein Kind gehört, zumal ein behindertes Kind – entsprechend größer und teurer hätte die Wohnung sein dürfen.

Etwas ausführlicher formuliert: Für einen Zwei-Personen-Haushalt mit Wohnberechtigungsschein liegt die Mietobergrenze, die als angemessen betrachtet wird, bei 476 Euro. Bei einem Drei-Personen-Haushalt liegt sie bei 589 Euro. Wer auf einen Rollstuhl angewiesen ist, wird stärker gefördert, unter Umständen hätte auch das behinderte Kind mit mehr als einer Person angesetzt werden können. Sprich: Bei wohlwollender oder genauerer Prüfung hätte dem Paar unter Umständen eine Vier-Zimmer-Wohnung zugestanden. Doch dazu kam es nicht, was möglicherweise ein Fehler war, wie das Landratsamt zugibt.

Ablehnungsbescheid am 8. April

Der Antrag ging laut Behörde am 7. April dieses Jahres ein. In dem Wissen, dass auf dem Wohnungsmarkt enge Fristen gelten, sei man stets darum bemüht, die Anträge rasch zu bearbeiten. Und so sei bereits am 8. April ein Bescheid verschickt worden. Es war ein Ablehnungsbescheid.

Abgelehnt, weil die Behörde das Kind übersehen oder auf Hinweise nicht explizit nachgefragt hatte. Eine genaue Prüfung wurde nicht mehr veranlasst, nachdem der Ablehnungsbescheid ergangen ist. Und das, obwohl Stefan Rehm an das Jobcenter am 11. April eine E-Mail schickte. In dieser Mail, die der SÜDKURIER-Redaktion vorliegt, wies er nicht nur auf den Rollstuhl seiner Frau hin, sondern explizit auch auf ihr Kind.

Drei Monate lang, sagt Rehm, hätte die potenzielle Vermieterin geduldig gewartet. In dieser Zeit sei das Jobcenter aber entweder nicht erreichbar gewesen, habe auf Krankheitsfälle oder auf die Gesamtsituation durch Corona verwiesen. Letztlich habe sich die Vermieterin dann für einen anderen Mieter entschieden.

Erneuter Blick in die Unterlagen

Jetzt, auf SÜDKURIER-Anfrage, und nachdem der Behörde das Aktenzeichen vorgelegt worden ist, schaute sich das Jobcenter die Unterlagen noch einmal genauer an. Rückblickend betrachtet, so die Entschuldigung der Behörde, sei deutlich, dass in diesem Fall ein „Missverständnis“ vorlag. Das, so wörtlich, tue der Behörde „sehr leid“.

Ganz offensichtlich wurde im Jobcenter in Friedrichshafen übersehen, dass die Familie ein Kind hat. Das wird in der Antwort von Pressesprecher Schwarz bestätigt, wenngleich er sich etwas verklausulierter ausdrückt: „Nach erneuter Durchsicht der Unterlagen wissen wir heute, dass der Aspekt Kind nicht ausreichend durch unsere Sachbearbeitung gewürdigt worden ist und deshalb nicht in gewünschter Weise in die Entscheidung eingeflossen ist. Hier hätten wir nochmal gezielt nachfragen und die Sachlage prüfen müssen.“

Ob der Bescheid schlussendlich falsch war, könne nicht mit Sicherheit gesagt werden, weil noch offene Fragen erst geklärt werden hätten müssen.

Denkbar im weiteren Prozess ist dieses Szenario: Auch wenn die Existenz des Kindes vermerkt worden wäre, wäre bislang unklar, ob die Vierjährige tatsächlich zu den Eltern zieht. Typischerweise nimmt in so einem Fall das Jugendamt des einen Landkreises mit dem Jugendamt des anderen Landkreises Kontakt auf um zu klären, ob eine Rückführung in die Herkunftsfamilie sinnvoll erscheint. Grundsätzlich erwünscht ist so ein Fall aber bei den Sozialbehörden, schon aus Kostengründen.

Kann das Jobcenter noch etwas retten?

Ausdrücklich bietet der Bodenseekreis der Familie an, dass man sich noch einmal miteinander austauscht und nach Lösungen für eine Unterstützung sucht. Eine derartige Wiedergutmachung durch die Behörde im Bodenseekreis würde aber nur dann Sinn machen, wenn die Familie hier im Landkreis eine Wohnung findet. Und so hegt das Paar die Hoffnung, dass das hier jemand liest, der ihnen Herz und Türe öffnet. „Stefan ist handwerklich geschickt“, sagt Karin Anderson. Momentan arbeitet er als Reinigungskraft in einem Asylbewerberheim. „Ich will am neuen Wohnort rasch wieder eine Arbeit finden“, sagt er.

Rehm/Anderson stecken in einem Teufelskreis, wie andere Paare in vergleichbarer Situation: So lange er nicht wisse, in welche Himmelsrichtung sie das Schicksal verschlägt, könne er sich nicht für einen Job bewerben. Stefan Rehm: „Ohne Wohnung keine Arbeit und ohne Arbeit keine Wohnung.“