Das Haus, in dem Irene Wickbold lebt, erkennt man an den weißen Markierungen auf den Stufen zur Eingangstür. Die baugleichen Nachbarhäuser haben das nicht. „Mich hat mal jemand gefragt, ob ich denn keine Taschenlampe nutzen könnte“, schmunzelt Irene Wickbold. Die Markierung wurde angebracht, weil sie hochgradig sehbehindert ist. „Mein Gesichtsfeld ist etwa so groß wie ein Stecknadelkopf“, sagt sie. Da machen gut sichtbare Begrenzungen von Stufen eine Menge aus, nicht nur bei Dunkelheit.
Eigentlich ist so ein bisschen Farbe eine Kleinigkeit. Für Menschen mit Behinderung kann die aber viel in Sachen Sicherheit und Mobilität verändern. Das ist einer der Gründe, warum sich Irene Wickbold im vergangenen Jahr für die Stelle der „kommunalen ehrenamtlichen Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen“ beworben hat. Schon der Titel macht deutlich, wo sie nach ihrer Wahl durch den Gemeinderat im September 2022 gelandet ist: als ehrenamtliche Helferin in der Verwaltung – eine ungewöhnliche Konstellation.
Von Schottland an den Bodensee
Irene Wickbold wurde in Niedersachsen geboren und war nie „normal sehend“, wie sie es beschreibt. Sie machte schon bei Schuleintritt in den 1960er-Jahren die Erfahrung, dass ihre Beeinträchtigung schnell als allgemeine Unfähigkeit abgestempelt wurde. Daher habe sie den Entschluss gefasst, es besser zu machen und in Hannover Sonderpädagogik studiert, berichtet sie. Später kamen noch eine Sozialtherapie-Ausbildung und die Fortbildung zur Heilpraktikerin hinzu.

Nachdem sie drei Jahre in Schottland gelebt hatte, kam Irene Wickbold 1992 in den Bodenseekreis, wo sie auch ihren Mann kennenlernte. Sie wohnten erst in Heiligenberg, dann in Salem und nun in Überlingen. Als Sonderschullehrerin arbeitete Wickbold mit Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen und war bis zu ihrer Frühpensionierung zehn Jahre an der Förderschule in Salem tätig.
Anwältin für Menschen mit Behinderungen
„Langeweile habe ich keine!“, sagt sie prompt auf die Frage, warum sie sich für das Amt beworben hat. „Ich möchte als Anwältin für Menschen mit Behinderungen agieren und etwas bewegen.“ Dafür sieht sie sich gut aufgestellt durch die Erfahrungen als Sonderpädagogin, ihre eigene Beeinträchtigung sowie den Umgang mit ihrer 91-jährigen Mutter, die im Rollstuhl sitzt. Es hätten sich auch schon Überlinger an sie gewendet und ihre Probleme geschildert. Wie zum Beispiel eine ältere seh- und gehbehinderte Dame, die im Sommer auf manchen Gehwegen kaum an den Stühlen der Außengastronomie vorbeikomme, ohne mit einem Poller zu kollidieren oder auf die Fahrbahn zu treten. Das gleiche einem Hindernislauf, sagt Irene Wickbold.

Andere bemängelten die Zahl der Behinderten-Parkplätze beziehungsweise die eingeschränkten Nutzungsmöglichkeiten an den Markttagen. Bei allen Punkten würde sie gerne aktiv werden, das sei aber noch sehr mühsam, so die Behindertenbeauftragte. Als Neuling im Amt müsse sie sich bei jedem Thema durch den Behördendschungel arbeiten und aufwendig die Zuständigkeiten recherchieren. „Ich brauche Unterstützung, damit ich weiß, wo ich ansetzen kann“, lautet ihr Fazit nach den ersten vier Monaten.
Auch bei der digitalen Anbindung an die Verwaltung hapere es noch. Beim Arbeiten von zu Hause mit ihren vertrauten Geräten liefe es noch nicht reibungslos. Dabei sei Barrierefreiheit ja auch digitale Teilhabe, fügt sie hinzu. Umgekehrt klappt es schon ganz gut. Die Stadt habe sie bereits um schriftliche Stellungnahmen für einige Projekte gebeten. Ein Kommentar der Behindertenbeauftragten ist oft obligatorisch, um Fördergelder für bestimmte Maßnahmen zu bekommen.
Viele Hindernisse für Beeinträchtigte
Wenn man Irene Wickbold ein Stück auf ihrem Weg in die Stadt begleitet, lernt man einiges über das Thema Barrierefreiheit. „In Überlingen gibt es viele Treppen“, sagt sie und zeigt auf eine der steilsten – die Teufelstreppe. Die Stufen sind für sie kaum unterscheidbar, dazu ist das Geländer erst an der rechten, dann an der linken Seite angebracht. Anders als in Meersburg, das ähnliche topografische Voraussetzung habe, gebe es hier keine Stufenkennzeichnungen.

Schwierig seien auch die grauen Metallpoller, die an vielen Stellen in der Stadt die Durchfahrt versperren. „Stellen Sie sich vor, sie laufen durch die Stadt und sind total geblendet von der Sonne. Dann sehen Sie die nicht“, beschreibt sie ihre Wahrnehmung, nicht nur bei Sonne. Es fehle der Kontrast, beispielsweise eine weiße Markierung oben, damit die Poller für sie nicht optisch mit der grauen Umgebung verschmelzen.
Werden Bedürfnisse von Älteren und Kranken zu wenig thematisiert?
In den aktuell geführten gesellschaftlichen Diskursen zu Gleichberechtigung und Teilhabe ärgere sie, dass die Bedürfnisse von älteren und kranken Menschen oft kaum thematisiert würden. Als Beispiel nennt sie die Debatte um geschlechtsneutrale Toiletten. Auch Menschen mit Behinderung benötigten im öffentlichen Raum dringend barrierefreie sanitäre Anlagen.
Als weiteres Thema nennt sie Bänke. Sie finde es gut, wenn mehr Sitzgelegenheiten aufgestellt werden – allerdings seien diese ohne Schattenspender für ältere oder erschöpfte Menschen im Sommer keine Erleichterung.
Manchmal seien es Nuancen, die eine Maßnahme für alle gewinnbringend mache. Das Augenmerk der Planer und Verantwortlichen auf diese Stellen zu lenken, sieht Irene Wickbold als ihre Aufgabe.