Magdalena Stoll

Es ist Samstag. In Überlingen findet der Wochenmarkt statt. Fridolin Nell, Fotograf und Stadtführer, ist sehr gerne in der Stadt unterwegs. Er kennt hier jede Ecke und zu jedem Ort auch eine Geschichte – zum Beispiel die, der verschwundenen Korbflechtereien. „Sehen Sie, immer noch haben viele Menschen einen Korb dabei, wenn sie hier einkaufen gehen“, freut er sich. In der Tat: Wer den Blick schweifen lässt, entdeckt die Weidenkörbe noch in den Händen mehrerer Marktbesucher. Heute werden die fein geflochtenen Körbe zwar nicht mehr so oft gebraucht wie früher, doch bevor Plastiktüten und Papiertaschen den Markt eroberten, waren die alten Naturkörbe unentbehrlich.

Von Salem-Neufrach nach Überlingen

In Überlingen gab es sogar mehrere Korbflechtereien, die Transportgefäße aus Weide herstellten. Eine davon, eine verwinkelte, schiefe kleine Hütte, die inzwischen abgerissen wurde, befand sich in der Luziengasse. Die Werkstatt erreichte man über ein paar Stufen, die in den Stall führten. Auch Spuren einer weiteren Korbflechterei in der Gradebergstraße 5 sind heute noch zu sehen. Fridolin Nell hat zu diesem Ort eine ganz besondere Verbindung: Die Korbmacherei gehörte seinem Vater Bernhard Nell. Er war nach dem Ersten Weltkrieg aus Salem-Neufrach nach Überlingen gekommen.

Bild 1: Adventskalender der verschwundenen Orte: Wie in der Korbflechterei von Bernhard Nell in der Gradebergstraße vor 80 Jahren gearbeitet wurde
Bild: Müller, Cornelia

Vom Soldat zum Korbmacher

Als junger Soldat hatte Bernhard Nell einen Knieschuss abbekommen und mit seinem steifen Gelenk war er etwas gehbehindert. Das Handwerk der Korbmacherei eignete sich gut für den Kriegsversehrten. Seine Werkstatt befand sich im Erdgeschoss auf der rechten Seite, links war der Laden, in dem der Korbmacher die Kundschaft bediente. In den oberen Stockwerken wohnte Familie Nell mit Fridolin und seinen vier Schwestern. Sehr gut erinnert sich der Sohn an das Schild, das über dem Eingang hing: „Korbwaren-, Korbmöbel-, Stuhlflechterei – Bernhard Nell“, war darauf zu lesen.

Fridolin Nell vor seinem Elternhaus, in dem sich früher die Korbflechterei befand. Die Fensterläden sind bis heute grün gestrichen – wie ...
Fridolin Nell vor seinem Elternhaus, in dem sich früher die Korbflechterei befand. Die Fensterläden sind bis heute grün gestrichen – wie vor 80 Jahren. | Bild: Magdalena Stoll

Großes Herz unter einer rauen Schale

Nell muss lachen, als er erzählt: „Das war so eine verschnörkelte Schrift, da sah das 'K' eher wie ein 'R' aus und ich habe als Kind ‚Rorbwaren, Rorbmöbel‘ gelesen.“ Schmunzeln muss der Korbmachersohn auch, wenn er an den Alltag im Geschäft denkt. „Es kamen ganz viele Frauen, um Korbwaren zu kaufen, aber auch sehr oft, um Dinge wie etwa einen Teppichklopfer reparieren zu lassen." Dann erkannte Bernhard Nell sofort und ohne Erklärung des Kunden, was zu tun war. "Er sagte immer ganz kurz ‚Leg’s na‘, ohne weiteren Kommentar“, erzählt Fridolin Nell. Vielleicht, überlegt er, habe sein Vater dadurch etwas barsch gewirkt, doch Fridolin Nell kennt ihn auch von einer anderen Seite und spricht stolz über seinen Vater, der ein gut aussehender Mann mit einem großen Herz unter der rauen Schale gewesen sei. „Seine Freundlichkeit war nicht offensichtlich, sondern drückte sich in kleinen Gesten aus.“

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Weidensammeln mit dem Vater

Wenn die Frauen beispielsweise ihren fertig reparierten Teppichklopfer bei Bernhard Nell abholen wollten, habe es durchaus passieren können, dass der Korbflechter kein Geld annahm, sondern nur „Nimm’s mit!“ sagte. Fridolin Nell schaute seinem Vater im Geschäft nicht nur über die Schulter, er half auch mit. So nahm Bernhard Nell seinen Sohn mit zu den Bauern, auf deren Feldern entlang den Bäche Weiden wuchsen. Fridolin half, die Weiden zu schneiden und zu putzen. Dann banden Vater und Sohn die Bündel zusammen und brachten sie in die Werkstatt in der Gradebergstraße. Dort wurde das Material geschält. „Hergestellt haben wir daraus zum Beispiel Kriesekratte, so nannten die Sipplinger einen speziellen Korb zum Kirschenpflücken.“

Sohn schlägt andere berufliche Laufbahn ein

Die Körbe hatten zwei Henkel nebeneinander, durch die ein Gurt oder ein Seil geführt werden konnte. So konnte sich der Erntehelfer den Behälter unter den Bauch binden. Fridolin Nell denkt gerne an die Zeit in der Korbflechterei zurück, doch sein beruflicher Weg führte ihn in eine ganz andere Richtung: Er lernte fünf Jahre lang das Fotografieren bei Siegfried Lauterwasser und arbeitete fünf weitere Jahre in dessen Fotogeschäft. Ab 1955 stand Nell als Fotograf beim Rüstungs- und Technologieunternehmen Bodenseewerk in Lohn und Brot.

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Die grünen Fensterläden sind erhalten geblieben

Die Werkstatt konnte Fridolin Nell nicht weiterführen. Er verkaufte später das Gebäude. Dabei stellte er eine Bedingung: Die Läden im Erdgeschoss sollten so bleiben, wie sie schon in der Zeit der Korbflechterei gewesen waren. Und so schaut Fridolin Nell, wenn er die Geschichte erzählt, noch heute auf die grünen Fensterläden – wie schon als kleiner Junge vor 80 Jahren, als er über die verschnörkelten Buchstaben oberhalb der Fenster gestaunt hatte.