Herbert A. sitzt am Tisch eines Cafés und rührt im Cappuccino. „Das, was ich Ihnen jetzt erzähle, ist ein handfester Medizinskandal.“ Dann nimmt er einen Schluck und berichtet, wie ein Arzt sein Leben zerstört hat. Dem SÜDKURIER hat er das Versprechen abgenommen, anonym zu bleiben. Herbert A. ist nicht sein richtiger Name. Doch was er erzählt, wurde von seinem Anwalt bestätigt. Auch Staatsanwälte und eine Versicherung haben sich mit dem Fall befasst. Herbert A. möchte andere warnen: Er leidet an Depressionen und Impotenz. Weil er falsch beraten wurde, wie er sagt. Und weil er keinerlei Aussicht auf Entschädigung hat.

Alles beginnt mit ein paar Pillen

Begonnen hat alles mit einer angebrochenen Packung des Medikaments Finasterid. Das hat ihm ein Arzt laut Herbert A. über den Tisch seiner Praxis geschoben. „Schon länger hatte ich eine vergrößerte Prostata“, erzählt A. Damit war er lange beschwerdefrei. Doch nach einem Umzug ließ er sich von seinem neuen Urologen beraten, einem Doktor im Bodenseekreis. Der befand: Es sollte gehandelt werden. „Er legte mir eine Operation zur Verkleinerung meiner Prostata nahe. Oder eine Behandlung mit dem Medikament Finasterid.“ Skalpell oder Tablette? Für Herbert A. war die Entscheidung klar. Er griff nach der angebrochenen Packung und nach dem Folgerezept. Einen Beipackzettel bekam er nicht. Das war im Juni 2020.

In einem Café erzählt Herbert A. seine Geschichte. Das Medikament Finasterid hat er mitgebracht. Und auch ein Dokument des ...
In einem Café erzählt Herbert A. seine Geschichte. Das Medikament Finasterid hat er mitgebracht. Und auch ein Dokument des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Darin wird vor dessen Nutzung gewarnt. | Bild: Benjamin Schmidt

Herbert A. erinnert sich: „Er hat mir gesagt, ich soll die Pillen bis auf Weiteres täglich einnehmen.“ Auch gewarnt haben soll ihn der Doktor: Wer Finasterid nutzt, müsse mit einer nachlassenden Libido rechnen. A. sagt: „Ich rechnete mit einer temporären, also einer wieder abklingenden Wirkung.“ Dauerhaft wollte er gewiss nicht auf seine Potenz verzichten. Denn er hatte vor dem Arztbesuch die Liebe gefunden – und geheiratet.

Nach der Einnahme von Lust keine Rede mehr

A. nimmt wieder einen Schluck aus der Kaffeetasse. Er hat einen dicken Kloß im Hals. Im Jahr 2018 lernte er seine Partnerin kennen, ein unerwarteter Segen im fortgeschrittenen Alter. Das letzte Mal Sex hatten sie in ihrer Hochzeitsnacht. Dann, nach der Einnahme von Finasterid, war von Lust keine Rede mehr. Hinzu kamen Sinnesstörungen, Verwirrtheit: „Im Straßenverkehr wurde ich zur Gefahr“, erinnert sich A. Er übersah rote Ampeln, verwechselte einmal gar die Bundesstraße mit einer Autobahn. „Ich wäre beinahe in voller Fahrt in den Gegenverkehr gerast – mit mehreren Insassen an Bord.“ A. schaut auf: „In dieser Zeit habe ich oft über Selbstmord nachgedacht.“

Sehnsucht nach dem Tod

Irgendwann konnte Herbert A. nicht mehr. Fast zwei Monate lebte er schon in einer dunklen Wolke aus negativen Gedanken, endloser Trauer und seiner Sehnsucht nach dem Tod. Erneut suchte er den Arzt auf. „Der Doktor empfahl mir, Finasterid sofort abzusetzen“, erzählt A.. Ersetzen sollte er die Pillen durch Dutasterid. Das Medikament ist weniger stark dosiert. „Aber es wurde kaum besser.“

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Dann beginnt er zu recherchieren

Es dauerte weitere zwei Monate, bis Oktober 2020, bis A. auf einen Beitrag in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ stieß. Darin warnt der Verfasser davor, Finasterid einzunehmen. Und er mahnte, dass die Wirkung jahrelang anhalten könne – auch wenn das Medikament längst abgesetzt wurde. A. holt Luft. „Dann begann ich zu recherchieren.“

Herbert A. hat kurz vor Einnahme des Medikaments geheiratet.
Herbert A. hat kurz vor Einnahme des Medikaments geheiratet. | Bild: Benjamin Schmidt

Was er herausfand, kann er bis heute kaum fassen. Bereits im Juli 2018 – also zwei Jahre, bevor er Finasterid einnahm – hatte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vor dem Medikament gewarnt. Im sogenannten „Rote-Hand-Brief“ geht um exakt die Beschwerden, unter denen A. litt: Sexuelle Dysfunktion, Depressionen. Im Dokument ist etwa zu lesen: „Patienten sollten ebenfalls darüber informiert werden, dass sexuelle Dysfunktionen – basierend auf einzelnen Fallberichten über Patienten – auch nach Absetzen der Therapie länger als zehn Jahre fortbestehen können.“

Warnung auf dem Beipackzettel – den er nicht erhielt

Herbert A. sagt, sein Arzt hat diese schwerwiegenden Konsequenzen mit keinem Wort erwähnt. Sogar auf dem Beipackzettel des Medikaments steht, dass eine unbekannte Anzahl von Patienten dauerhaft an Depressionen und sexuellen Funktionsstörungen leidet. Zur Erinnerung: Herbert A. sagt, dass er einen Beipackzettel gar nicht bekommen hat. „Mein Arzt ist schlicht seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen.“

A. suchte weiter. Trotz Depressionen – und dem Gefühl, das Leben sei nur noch Last. Er stieß auf wissenschaftliche und journalistische Beiträge, die sich mit dem Thema befassen. Er fand heraus, dass Finasterid nicht nur bei einer vergrößerten Prostata verschrieben wird – sondern auch bei Haarausfall. Es wirkt wie ein zynischer Witz: Männer fühlen sich wegen ihrer Glatze schlecht – und bezahlen für Kopfhaare mit ihrer Potenz. Wie kann das sein?

Ein sogenannter Rote-Hand-Brief warnte bereits im Jahr 2018 vor den Folgen des Medikaments.
Ein sogenannter Rote-Hand-Brief warnte bereits im Jahr 2018 vor den Folgen des Medikaments. | Bild: Benjamin Schmidt

Klar ist: Mit einem Rote-Hand-Brief geht kein Verbot einher. Ein Sprecher des BfArM schreibt auf Anfrage: „Mit einem Rote-Hand-Brief werden sicherheitsrelevante Informationen für die Verschreibung, Abgabe und Anwendung eines Arzneimittels kommuniziert, die von den heilberuflichen Fachkreisen berücksichtigt werden sollten.“ Weiter zitiert er aus dem Brief selbst: „Um Sie bei der individuellen Beratung Ihrer Patienten sowie der Nutzen-Risiko-Abwägung vor einer Therapieentscheidung (...) zu unterstützen, möchten wir Sie auf folgende Sicherheitsaspekte hinweisen (...).“

„Möchten“. „Sollten“. „Unterstützen“. Harte Regeln klingen anders. Auch spezielle Aufklärungspflichten gehen mit dem Rote-Hand-Brief nicht einher. Das Medikament wird weiterhin verschrieben. Herbert A. sagt: „Ich konnte das einfach nicht glauben.“ Und er entschied sich zu handeln.

Jurist spricht von „patientenfeindlicher Rechtsprechung“

Er wandte sich an den Friedrichshafener Anwalt Roland Bisping. Der befasst sich seit Jahrzehnten mit Medizinrecht. Allerdings hatte Bisping bereits früh wenig Hoffnung, dass A. entschädigt werden könnte. Dem SÜDKURIER sagt der Jurist: „Es gibt eine patientenfeindliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes.“ Fachkreise sprechen von der sogenannten „Immer-so-Regel.“

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Der Name ist Programm: Es wird immer davon ausgegangen, dass Ärzte ihre Patienten aufklären – selbst wenn ein Mediziner hierfür keinen Nachweis erbringen kann, etwa durch schriftliches Formular. Im Fall von Herbert A. bedeutet das: Er behauptet, sein Arzt habe ihn nicht auf die Nebenwirkungen von Finasterid hingewiesen. Und der Arzt? Ein Gesprächsangebot des SÜDKURIER lehnt er ab. Doch laut Anwalt Bisping behaupten der Mediziner und dessen Haftpflichtversicherer, dass ausreichend aufgeklärt wurde. Die Krux an der Sache: Selbst wenn der Urologe keinerlei schriftliche Unterlagen hat, um seine Angaben zu belegen – gerichtlich wird ihm mit sehr großer Wahrscheinlichkeit geglaubt. Der Patient hat das Nachsehen.

Im Zweifel für den Arzt

Mit dieser Auffassung steht Anwalt Bisping nicht allein da. Auch die Juristen Hans-Berndt Ziegler und Anne Ziegler bezeichnen in einem Aufsatz in der „Zeitschrift für Arztrecht, Krankenhausrecht, Apotheken- und Medizinrecht“ die Regelung als „in dubio pro medicus“ (Im Zweifel für den Arzt). Sie kritisieren eine abgeschaffte Waffengleichheit zwischen Medizinern und Patienten: „Sie stellt (...) im Ergebnis eine unbegründete rechtliche Besserstellung des Arztes dar.“

„Anwendung nur bei Männern“ ist auf der Packung von Finasterid zu lesen. Doch für Herbert A. hatten die Pillen unerwünschte ...
„Anwendung nur bei Männern“ ist auf der Packung von Finasterid zu lesen. Doch für Herbert A. hatten die Pillen unerwünschte Nebeneffekte. | Bild: Benjamin Schmidt

Was bedeutet das für Herbert A.? Nach einer schriftlichen Auseinandersetzung mit der Haftpflichtversicherung des Arztes kam Anwalt Bisping zur Überzeugung, dass ein Prozess aussichtslos sei. In einem Dokument, das dem SÜDKURIER in Auszügen vorliegt, schreibt die Haftpflichtversicherung des Urologen: „Sofern der Arzt nachvollziehbar darlegen kann, dass er seine Patienten immer auf bestimmte Risiken hinweist, dann wird vermutet, dass dies auch in dem zu entscheidenden Fall geschehen ist.“ Sie beziehen sich also auf die „Immer-so-Regel.“

Auch Strafanzeige scheitert

Herbert A. wollte dennoch nicht aufgeben – und reichte Strafanzeige gegen den Arzt ein. Da der Doktor auch in Bayern eine Praxis betreibt, befassten sich die Staatsanwaltschaften im Nachbarland mit der Angelegenheit. Letztlich ging die Sache bis zur Generalstaatsanwaltschaft in München. Doch der Beschwerde wurde nicht stattgegeben – auch wegen eines Gutachtens, das einen Behandlungsfehler nicht anerkennt. Herbert A. bezeichnet die darin formulierte Einschätzung als fragwürdig. Mit ihm habe der Verfasser kein einziges Wort gesprochen.

Auch deswegen hat er sich an den SÜDKURIER gewandt. „Ich will kein Opfer sein, sondern handeln, aufklären“, sagt Herbert A. Ihm geht es um Würde. Er selbst kämpft weiterhin gegen die Folgen der Medikamente. Wegen der Depressionen befindet er sich in Therapie. Gegen die Dysfunktion kann ihm bislang niemand helfen. Und dennoch bleibt ihm etwas Glück: Seine Ehe ist an diesem Albtraum bislang nicht zerbrochen.

So wie Herbert A. dürfte es vielen Menschen gehen. Anwalt Bisping bestätigt: „Was meinem Klienten passiert ist, die Machtlosigkeit in der rechtlichen Auseinandersetzung mit einem Arzt, das ist kein Einzelfall. Das geschieht jeden Tag.“