Seit 13 Jahren amtiert Winfried Kretschmann als einziger grüner Ministerpräsident in Deutschland, wohnt zwar im Sigmaringer Teilort Laiz, ist aber in der Heimat nicht sehr häufig anzutreffen. Einen seiner seltenen Auftritte absolvierte er am Donnerstagabend als Festredner beim Neujahrsempfang des grünen Kreisverbandes im Bildungszentrum Gorheim, den er vor 45 Jahren mitgegründet hat. An die Versammlung im damaligen „Pfauen“ könne er sich kaum erinnern, bekannte Kretschmann und erklärte, warum er sich in Sigmaringen so rar gemacht hat: aus Respekt vor der kommunalen Selbstverwaltung, sprich den kommunalpolitischen Aktivitäten seiner Ehefrau Gerlinde als frühere Sigmaringer Stadträtin und von Sohn Johannes als amtierender Kreisrat.

Maximen für das politische Handeln erklärt

Im vollbesetzten Saal wurde Kretschmann seinem Ruf als Pragmatiker mehr als gerecht. Die Organisatoren hatten ihrem prominentesten Mitglied 35 Minuten Redezeit eingeräumt, wobei der Ministerpräsident die starre Vorgabe absolut flexibel interpretierte. Allein die Besucher wurden nicht unruhig, denn sie hörten Denker und Lenker in der Villa Reitzenstein im Prinzip einen Leitfaden für politisches Handeln. „Klar in den Zielen, offen in den Wegen“, definierte Kretschmann seine Handlungsmaxime und betonte die Wichtigkeit von Visionen. Man benötige robuste, neue, tragfähige und zukunftsfähige Ideen, wie die Grünen dies getan hätten. Erstmals in der Geschichte habe eine Partei die Natur als Idee zur Grundlage gemacht. Die Grünen hätten den Umweltschutz nicht erfunden, aber zu ihrem Kernthema gemacht.

Entkopplung von Wirtschaft und Ressourcenverbrauch

Der Klimawandel und das Artensterben sind für Winfried Kretschmann die Fundamentalkrisen. Dazu kommen geopolitische Verschiebungen, digitale Revolution, Demografie und die aufkommende künstliche Intelligenz. Diese Krisen, dazu Kriege und Migration, gefährdeten das deutsche Geschäftsmodell, sprich die auf Export ausgerichtete Wirtschaft. Die Lösung kann nach Überzeugung von Kretschmann nur sein, die Wirtschaft vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Ex-Landtagsabgeordnete Andrea Bogner-Unden.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Ex-Landtagsabgeordnete Andrea Bogner-Unden. | Bild: Volk, Siegfried

Wenn Deutschland diese Transformation erfolgreich gestaltet, kann man weltweit eine Vorreiterrolle übernehmen und der heimischen Wirtschaft ein Zukunftsmodell bieten. Selbstkritisch ergänzte der Ur-Grüne, dass seine Partei zu Beginn eine Anti-Wachstumspartei war, was man korrigiert habe.

Dialog mit den Bürgern ist entscheidend

Baden-Württemberg sei für 0,2 Prozent des weltweiten CO₂-Ausstoßes verantwortlich: „Selbst, wenn wir das auf null reduzieren, können wir die Welt nicht retten.“ Zustimmung erhielt er auch für die Feststellung, dass den Grünen oft ein „Hang zur Besserwisserei“ attestiert werde, wobei man beim Umweltthema ja recht hatte. Entscheidend ist für Winfried Kretschmann der Dialog mit den Bürgern, um Themen durchzusprechen, und zwar auf Augenhöhe. Nach den Debatten wird entschieden, und zwar von den jeweiligen Verfassungsorganen. Bei der Gründung des grünen Kreisverbandes hatte der damalige Chemie- und Biologielehrer Winfried Kretschmann noch gefordert, dass über Bauvorhaben ohne Beteiligung von Bürgerinitiativen nicht entschieden werden dürfte. Mit Blick auf die Vergangenheit erklärte er unter dem wissenden Schmunzeln der Zuhörer, dass er manche Aussagen von damals nicht mehr machen würde.

Politik des Gehörtwerdens angestoßen

Mehrfach lobte der Ministerpräsident die von ihm 2011 angestoßene „Politik des Gehörtwerdens“, um den Bürger in den Mittelpunkt des politischen Handelns zu rücken. Ein Auslöser war dabei ein Gespräch mit dem damaligen Papst Benedikt XVI., das er kurz nach seiner ersten Amtseinführung führte. Dieser habe sich nach Stuttgart 21 erkundigt oder besser gesagt, wie ein solch fundamentaler Konflikt zwischen Bürgerschaft und Politik um ein unterirdisches Bauwerk entstehen konnte. Als „Farce“ bezeichnete er übrigens das langwierige Monitoring um den Stuttgarter Bahnhofsbau, wo man ausführlichst über technische Details gesprochen habe, was letztlich am eigentlichen Konflikt vorbeiging. Mit Blick auf die Landtags- und Bundestagsabgeordneten, die zum Abschied von Andrea Bogner-Unden nach Sigmaringen gekommen waren, gab es von Kretschmann noch den Hinweis, dass man bei Wahlkämpfen nicht für Geleistetes belohnt wird, sondern für Versprechen. Abschließend lobte er seine Parteikollegin Andrea Bogner-Unden, die er als „pragmatische Abgeordnete“ bezeichnete. Sie sei in der Region das Gesicht der grünen Sache gewesen.

Dankbarkeit für viele Begegnungen

Andrea Bogner-Unden blickte auf ihre zehnjährige Tätigkeit als Landtagsabgeordnete zurück.
Andrea Bogner-Unden blickte auf ihre zehnjährige Tätigkeit als Landtagsabgeordnete zurück. | Bild: Volk, Siegfried

Andrea Bogner-Unden machte nochmals klar, dass ihr Rücktritt als Landtagsabgeordnete ausschließlich ihrem Gesundheitszustand geschuldet ist, der es ihr nicht mehr erlaube, mit „voller Kraft“ sich für die Menschen einzusetzen. Schwerpunktthemen ihrer zehnjährigen Abgeordnetentätigkeit waren „Kinder und Jugendliche“, was auch ihrer 35-jährigen Lehrerinnenzeit an der Heimschule Kloster Wald geschuldet war. Schüleraustauschprogramme lagen ihr am Herzen, und auch in das Thema Landwirtschaft habe sie sich eingearbeitet. Sie dankte allen Mitstreitern, Gesprächspartnern und Weggefährten, die sie begleitet haben. Große Sorgen bereitet ihr die weltweite politische Entwicklung mit Verrohung, rechtsradikalen Tendenzen und Lügen. Sie forderte eine offene Debattenkultur, geprägt von Respekt, Anstand und Empathie. Rücksichtslose, brutale und finanzstarke Menschen und Gruppen wollten die freiheitliche Gesellschaft zerstören, so wie Putin, Musk und Trump, wobei AfD und BSW Instrumente Russlands seien. Andrea Bogner-Unden will sich weiter engagieren, allerdings in anderer Form, beispielsweise bei der Ablachtalbahn.

Nachfolger Christoph Höh stellt sich vor

Die Begrüßung beim Empfang hatte Susanne Petermann-Mayer, eine der zwei Sprecherinnen des grünen Kreisverbandes, übernommen. Obwohl sich 2024 angefühlt habe wie sieben Jahre, sei Resignation keine Option, erinnerte sie zudem an die Gründungsversammlung vor 45 Jahren, wo sich manche Themen aktuell anhörten. Zum Abschluss des Neujahrsempfangs stellte sich Christoph Höh vor, der am 1. Januar offiziell das Landtagsmandat von Andrea Bogner-Unden übernommen hat. „Mein Weg beginnt erst“, erklärte der 61-Jährige, der im Wahlkreisbüro der Grünen Sprechstunden für die Bürger anbieten will. Politik sollte man durchaus global denken, aber entscheidend sei das Handeln vor Ort, gab er als Motto vor. Im Anschluss gab es bei Speis und Trank noch ausreichend Gelegenheit zum Gespräch.