Sie haben den exotischsten Beruf von Überlingen: Anne Gabriela Schmalstieg und Corinna Esterer arbeiten als Ziehmütter für Waldrappe. Ihr Ziel ist es, 31 Jungvögel auf den Flug von Überlingen ins Winterquartier in der Toskana vorzubereiten. Sie schmusen stundenlang mit den Tieren, hocken mit ihnen im Gras unter der Voliere in Hödingen; sie ertragen es, wenn ihnen von den jungen Vögeln ins Ohr geschnäbelt wird, sie füttern die Tiere – und sie trainieren mit ihnen den anstrengenden Flug über die Alpen, der um den 15. August herum beginnt.

Vom Schlüpfen im April bis zum Flug ins Winterquartier halten sich die Ziehmütter an jedem Tag der Woche im direkten Umfeld der Waldrappe auf. „Das ist nicht so romantisch, wie mancher sich das vielleicht vorstellt“, sagt Johannes Fritz, der Leiter des Waldrappteams, das in Mutters in Österreich seinen Sitz hat. Der ständige und ausschließliche Kontakt sei nötig, von morgens um sieben bis abends halb neun, damit die Vögel auf ihre Ziehmütter geprägt werden. Würden andere Menschen mit ihnen Kontakt aufnehmen oder sich die Ziehmütter im Beisein der Vögel anderen Menschen zuwenden, könnte der Kuckuck-Trick auffliegen.

Das Waldrappteam als EU-Life-Projekt existiert seit 15 Jahren. Die Überlinger Kolonie ist die zwölfte und zugleich die größte, erklärt Fritz. Wenn alles gut geht und keines der Tiere auf dem Rückflug in Italien abgeschossen wird, kehren die Vögel geschlechtsreif in zwei bis drei Jahren nach Überlingen zurück, wo sie in den Felsen von Goldbach erneut unter eine Voliere gesteckt werden, bis zum Tag der Eiablage, an dem das Projekt abgeschlossen wird. Ab dann bleiben die Vögel ihrem eigenen Nachwuchs und dem Standort treu und nicht mehr ihren Ziehmüttern. Im Idealfall bauen sie eine eigene Kolonie auf, wie dies bis zum Mittelalter der Fall war, bevor die Tiere in freier Wildbahn ausgerottet wurden. Um die Population zu vergrößern, damit sie in sich stabil bleibt, wiederholt das Waldrappteam 2018 die Aufzucht in Hödingen.

Bislang habe man angenommen, dass die Handaufzucht mit maximal 16 Vögeln klappt. Für Überlingen wurde die Zahl verdoppelt, sagt Fritz, was dem eingespielten Team von Schmalstieg und Esterer bislang sehr gut gelinge. Trotz der Koloniegröße könnten sie jedem Individuum gerecht werden, mit ihm interagieren, es in die Sozialgruppe integrieren – ohne sich wie eine besorgte Glucke aufzuführen. Jedem Tier müsse die nötige Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil es sonst seinerseits die Aufmerksamkeit verlieren und bei den ersten Schwierigkeiten in den Alpen die Motivation aufgeben könnte. Man sei auch schon gescheitert: 2007 musste an der Adriaküste das Projekt abgebrochen werden, „weil die Waldrappe nicht mehr weiter fliegen wollten“.

Bei den Trainingsflügen über Überlingen sind die Frauen zu hören, wie sie rufen „Komm, Waldi, komm“. Treu folgen ihnen die Vögel. Mensch und Tier begrüßen sich morgens mit einem „trp trp“ und bewegen dabei den Schnabel auf und ab – die Frauen verwenden dafür ihren Zeigefinger und nicken mit dem Kopf.
Informationen im Internet:www.waldrapp.eu
Besuch erwünscht
Dem tierischen Treiben an der Voliere kann täglich zugeschaut werden: in Hödingen am Sportplatz. Bitte beachten, dass die Vögel spontan ausfliegen, die Flugzeiten sind eher vormittags. Besucher werden gebeten, nicht bis Mitte August zu warten, um ein Gedränge in den letzten Tagen vor dem Abflug zu vermeiden. Gruppen melden sich vorab unter der Mobil-Nummer von Biologin Ines Aster: 00 43 66 04 53 19 45.


