Roland Berner zählte nicht speziell zu den Pädagogen, über die sich die Bundesrepublik in den 90-er Jahren echauffierte. Aber auch er war Teil eines Systems, das straffälligen Jugendlichen mitunter ein lustiges Leben auf Steuerzahlers Kosten ermöglichte. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtete im Juni 1996 unter dem Titel „Kamelritt ins Glück“ über zwei Mädchen aus Köln, die sich mit zwei Pädagogen auf Weltreise begaben, um mit erlebnispädagogischen Angeboten auf einen vernünftigen Lebensweg zurückgeholt zu werden. Die vom Spiegel aufgespießten Beispiele waren unrühmliche und überteuerte Ausnahmen. Kostspielig ist die Erziehungshilfe für sozial auffällige junge Menschen aber auch heute noch – nach Überzeugung von Roland Berner handelt es sich dabei aber um gut angelegtes Geld.

Roland Berner ist seit Januar 2017 der neue Leiter der „Linzgau Kinder- und Jugendhilfe“. Unter seiner Führung wurde der bisherige Name „Linzgau Kinder- und Jugendheim“ abgeschafft, um klar zu machen: „Wir sind mehr als ein Heim.“ Die Namensänderung ist Programm, und für Berner und sein 225-köpfiges Team Auftrag, sich nach außen zu öffnen. Knapp formuliert: Kindern und Jugendlichen und ihren Familien soll so frühzeitig Hilfe angeboten werden, dass ein teurer stationärer Aufenthalt verhindert werden kann.

Auf die Frage, ob das Geld für die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen gut angelegt sei, antwortet der 55-jährige Diplom-Pädagoge mit der Gegenfrage, ob es sich dabei um „Ausgaben oder um Investitionen“ handle. Die Antwort gibt er selbst: Es handle sich um Investitionen, die der Gesellschaft einen Mehrwert brächten. So wie von der Wirtschaft der Bau neuer Kindergärten gut geheißen werde, weil dann mehr Eltern zur Arbeit gehen können, möge man auch die Ausgaben für sozial auffällige Kinder und Jugendliche als Investition in die Wirtschaftskraft des Landes betrachten, weil verhindert werde, dass Fachkräfte fehlen.

Berner hat Erziehungswissenschaften studiert, seine erste Station war in den 90-er Jahren im Jugendheim „Waldhaus“ in Hildrizhausen im Landkreis Böblingen. Mit vier Jugendlichen fuhren er und eine weitere Pädagogin für ein dreiviertel Jahr nach Lappland. Ziel war es, die vier jungen Männer, die zu einer normalen Beschulung nicht fähig waren, auf den Hauptschulabschluss vorzubereiten. Zuerst bauten sie einen alten Postbus aus und fuhren über das Nordkap in den Norden von Finnland. Den Weg dorthin hätten die Vier noch als eine Art „Beutezug“ betrachtet, nach Einbrüchen in Bootshütten hätten sie in Südschweden noch regelmäßig mit der Polizei zu tun gehabt. Doch alle hätten sie ihren guten Lebensweg gemacht, teils mit neuen Brüchen und mitunter einem längeren Gefängnisaufenthalt. Doch hätten die positiven Erlebnisse in den jungen Männern die Gewissheit gestärkt, dass sie Krisen selbst meistern können, „sich selbst als Handelnde erleben“.

Berner: „Das hat einiges an Geld gekostet, ein Extrembeispiel, aber es zeigt, dass sich so ein Einsatz für die Gesellschaft lohnt.“ Wobei Berner nicht eine rein monetäre Bilanz ziehen möchte. „Es geht nicht bloß um einen soliden Haushalt, sondern auch um die Erfüllung unseres Grundgesetzes und der darin stehenden Werte.“

Ist es heute immer noch ein Makel, Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen? Berners Laufbahn führte ihn vom Pädagogen im „Waldhaus“ zum Berater für das Landesjugendamt, von dort in den Vorstand der Diakonie in Heilbronn, dann als Jugendhilfereferent zurück in den Paritätischen Wohlfahrtsverband und seit Januar ins Linzgau. Er könne feststellen, sagt er, dass es dieses Stigma, mit dem beispielsweise die Schulsozialarbeit behaftet war, nicht mehr gebe. Als Vater von drei Kindern habe er selbst für eine gewisse Zeit Hilfe bei der Erziehung seines pubertierenden Nachwuchses in Anspruch genommen. „Wir müssen sehen, dass es zusehends normal ist, dass Familien ihren Alltag nicht alleine bewältigen.“ Sein Ansatz für das neue Linzgau sei es, sich als „Schnittstelle“ anzubieten, zwischen Familien und Schulen zu wirken, vorbeugend tätig zu werden, damit das „Heim“ nicht nur aus dem Namen verschwindet.

Jetzt, als Berner seine Stelle im Linzgau antrat, erhielt er Besuch von den vier Jugendlichen, mit denen er in Lappland war – mittlerweile 40-jährige Männer. Berner: „Einer wurde Abrissunternehmer, der zweite Busfahrer, der dritte Fachlehrer für Erzieher, der vierte ist mit einer Polizistin verheiratet.“ Und mit der Pädagogin, mit der Roland Berner auf Lapplandreise war, ist er seit vielen Jahren verheiratet.

 

Die Einrichtung

Das „Linzgau“ ist eine sozialpädagogische Facheinrichtung im Linzgau. Der Stammsitz der Linzgau Kinder- und Jugendhilfe e. V. befindet sich im Überlinger Ortsteil Deisendorf. Roland Berner ist hauptamtlicher Vorstandsvorsitzender im Verein, Hilde Gebhard hauptamtlicher Vorstand. Zur Einrichtung gehören mehrere dezentrale Wohngruppen im gesamten Bodenseekreis und in der Stadt Konstanz mit insgesamt 132 stationären Plätzen, 33 davon im Betreuten Jugendwohnen. 45 dieser Plätze stehen derzeit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zur Verfügung. Mit der Janusz-Korczak-Schule verfügt das Linzgau über ein sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) mit den Förderschwerpunkten „emotionale und soziale Entwicklung“ sowie Vorqualifizierungsmaßnahmen in Arbeit und Beruf. Ambulante Hilfen in Form sozialer Gruppenarbeit, flexibel organisierter Hilfen für Familien sowie Integrationshilfen für Kinder und Jugendliche ergänzen das Angebot. Darüber hinaus sind die im Beschäftigten Ansprechpartner im Eltern-Kind-Projekt „Chance“ zur Betreuung von Familien vor, während und nach der Inhaftierung eines Elternteils. (shi)