Was bewegt einen Menschen dazu, sich über Jahre mit dem Schicksal im Krieg gefallener Soldaten aus seiner Heimat zu beschäftigen, ihren Lebenslinien nachzuspüren und die Umstände ihres Todes zu erforschen? Der Sipplinger Elmar Wiedeking hat darauf eine einfache Antwort: „Vergessen ist schlimmer als sterben.“

Seit 1985, als der diplomierte Chemiker noch im Berufsleben stand, trägt der heute 83-Jährige Informationen über die Opfer der Gewalt im Krieg in der Bodenseeregion zusammen. Jetzt legte er das zweite Buch zum Thema vor. Es enthält neue Untersuchungsergebnisse und fasst frühere aus dem ersten Buch „Das Ende“ zusammen. Wiedeking hat dem soeben im Eigenverlag erschienen Buch den Titel „Vergessen ist schlimmer als sterben – Erinnerungskultur eines Dorfes“ gegeben.

Beklemmende Aktualität durch Krieg in der Ukraine

Dem Sipplinger geht es bei seiner Arbeit um das Erinnern und Gedenken an Menschen, die ihr Leben im Krieg oder durch Gewalttaten in der Bodenseeregion verloren haben. Vor dem Hintergrund der Rückkehr des Krieges nach Europa durch den russischen Überfall auf die Ukraine und der dort bereits dokumentierten Kriegsverbrechen bekommen seine Schilderungen eine beklemmende Aktualität.

Nach 76 Jahren tauchte das Tagebuch von Josef Märte wieder in Sipplingen auf. Sogar ein kleines Veilchen, das der Vermisste 1944 ...
Nach 76 Jahren tauchte das Tagebuch von Josef Märte wieder in Sipplingen auf. Sogar ein kleines Veilchen, das der Vermisste 1944 gesammelt und dort getrocknet hatte, liegt noch darin. Elmar Wiedeking waren die Eintragungen ein wichtiger Wegweiser bei der Erforschung der Geschichte des Onkels seiner Frau. | Bild: Michael Schnurr

Im Zentrum steht Josef Märte, der Onkel seiner Frau

In das Zentrum seines neuen Buches hat Elmar Wiedeking den Sipplinger Josef Märte gestellt, den Onkel seiner Frau Marita, der seit August 1944 als vermisst galt. Noch heute ist es nicht exakt möglich zu sagen, wo und unter welchen Umständen der 25-Jährige den Tod fand. Doch durch seine akribische Forschungsarbeit konnte Elmar Wiedeking das Leben Märtes weitgehend nachzeichnen und dabei Todeszeitpunkt und -ort relativ exakt bestimmen.

Tagebuch 76 Jahre nach dem Tod Märtes gefunden

Wiedekings Schwiegermutter, die Schwester des seit 1944 vermissten Josef, habe Zeit ihres Lebens das Andenken an ihren Bruder wachgehalten, erinnert sich Elmar Wiedeking. So seien ihm die Nachforschungen zu einem Auftrag der Schwiegermutter geworden. Geholfen habe ihm dabei das Tagebuch von Josef Märte. Es wurde zufällig, 76 Jahre nach dem Tod des Vermissten, in Sipplingen gefunden. Wenn auch das Büchlein vor allem in den letzten Monaten vor dem Tod nur kurze Notizen zu Aufenthalten von Josef Märte enthalten habe, sei es ihm dennoch gelungen, durch weiterführende Recherchen ein Bild von den vermutlichen Erlebnissen, Eindrücken und Aufenthalten des jungen Mannes zu zeichnen, sagt Wiedeking.

Stellvertretend für viele Dorfbewohner, die im Krieg starben

Er belässt es aber nicht dabei, die Stationen im Leben des jungen Mannes aufzuzeichnen, der vor Kriegsbeginn bei den Flugzeugwerken Dornier in Friedrichshafen als Schlosser beschäftigt war. Der 83-Jährige bemüht sich auch darum, den Weg des jungen Flugzeugmechanikers aus der Enge des Sipplinger Dorfes in die weite Welt der Fliegerei zu beschreiben. Ihm müssten der Reichsarbeitsdienst und die Hitler-Jugend damals als ein Weg in die Freiheit erschienen sein, meint Wiedeking. Mit dem Buch kommt der 83-Jährige seinem selbst gestellten Auftrag nach: Er verleiht ein Gedenken und ein Gesicht, in diesem Fall dem Onkel seiner Frau stellvertretend für viele andere Dorfbewohner, die im Krieg starben.

In diesem Haus am Lenzensteig in Sipplingen verlebte Josef Märte seine Kindheit. Das Bild von 1936 aus dem Familienarchiv Wiedeking ...
In diesem Haus am Lenzensteig in Sipplingen verlebte Josef Märte seine Kindheit. Das Bild von 1936 aus dem Familienarchiv Wiedeking zeigt die Familie Märte: In der Tür Vater Max Märte, beim Gespann Mutter Rosa Märte, neben ihr steht Josefs Schwester Ida, auf dem Wagen sitzt seine Schwester Maria. | Bild: Elmar Wiedeking

Intensive Beschäftigung mit dem Tod seines Vaters

Der erste Impuls, sich mit dem Gedenken an die Gefallenen und Ermordeten zu befassen, war sehr persönlicher Natur. Elmar Wiedeking sagt: „Der Tod hat mich über viele Jahre begleitet, ich bin der Letzte meiner Generation.“ Es ist wohl die intensive Beschäftigung mit dem Tod seines Vaters, der am 9. Dezember 1944 im Bombenhagel der britischen Royal Air Force auf den Duisburger Bahnhofs starb, die ihn antrieb, gut 40 Jahre später die genauen Umstände des Todes zu erkunden. „Ich habe noch das klappernde Geräusch der Eisenräder des Bollerwagens im Ohr, mit dem der Vater das Gepäck der Familie zum Bahnhof brachte – und nie wiederkehrte“, erinnert sich der Sohn, der damals fünf Jahre alt war.

„Doch Trauer lässt sich nicht unterdrücken.“
Elmar Wiedeking

Die Nachforschungen von Elmar Wiedeking erhellten die Umstände des Todes seines Vaters, der wie weitere 85 Menschen damals durch das Bombardement starb. 93 Menschen wurden bei dem Angriff verwundet, 30 vermisst. Der Wehrmachtsbericht von diesem Tag erwähnte sie nicht. „Sie galten als unvermeidliche Verluste“, schreibt Wiedeking und führt weiter aus: „In allen kriegsbeteiligten Ländern (wurden) die Getöteten zu Helden erklärt und mit einem Totenkult umgeben, der es den Hinterbliebenen ‚leicht‘ machen sollte, mit dem Verlust geliebter Menschen ‚fertig‘ zu werden.“ Wiedeking fügt an: „Doch Trauer lässt sich nicht unterdrücken.“

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53 Opfer werden im zweiten Buch benannt

Elmar Wiedeking beließ es nicht bei Nachforschungen zu seiner Familie. Ihm wurde es zur Aufgabe, weiteren Menschen durch seine Nachforschung Erinnerung und Gesicht zu geben. Das zeigt sich nicht nur in seinem neuen Buch, das neben dem Bericht über Josef Märte auch 52 weitere Opfer von Krieg und Gewalt benennt und in Abbildungen zeigt.

Neue Erinnerungskultur am Volkstrauertag in Sipplingen

Sein Engagement wirkte sich bis auf die Gestaltung des Volkstrauertages in Sipplingen aus. Durch sein Engagement und dasjenige anderer wurde das in Sipplingen übliche Gedenken an die Gefallenen der beiden Weltkriege, das manche immer noch „Heldengedenken“ nannten, zu einem kollektiven Gedenken an die vielen Opfer aller Kriege und Gewalt. Ab 2007 wurde aus der katholischen Messfeier so ein ökumenischer Wortgottesdienst, bei dem Bilder vieler Opfer auf den Seitenaltären stehen und die Namen der Toten und Vermissten genannt werden.