Noch stehen erst ein paar Holzmodule, doch es werden täglich mehr: Auf der ehemaligen Außenfläche neben der Sporthalle, in Nähe zur Grundschule, wird eine eine neue Kita gebaut. Ab September sollen hier auf rund 640 Quadratmetern 60 Kinder bis zu sieben Stunden am Tag betreut werden.
Nur wenige hunderte Meter entfernt von der neuen Kita liegt der katholische Kindergarten St. Christophorus. Der hatte gerade erst im Februar aufgrund von Personalausfällen von einem auf den anderen Tag eine Woche lang geschlossen. Lediglich eine Notbetreuung mit kürzeren Öffnungszeiten konnte noch aufrechterhalten werden. Das Dilemma, in dem alle Beteiligten – Stadt, Träger, Erzieherinnen, Eltern – stecken, könnte nicht deutlicher werden als hier.
1. Hunderte Familien brauchen einen Kita-Platz
Der Betreuungsbedarf, insbesondere für Unter-Dreijährige, steigt permanent. Im Januar war Anmeldeschluss für das neue Kitajahr, jetzt bangen Eltern um Plätze. Dabei besteht seit über zehn Jahren der gesetzliche Anspruch auf Betreuung für Kinder ab einem Jahr. Nach einem neuen Gerichtsurteil des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) in Mannheim sind die Landkreise als Träger der öffentlichen Jugendhilfe auch in Zeiten des Fachkräftemangels und Platzknappheit in der Pflicht, ausreichend Kita-Plätze bereit zu stellen. Heißt: alle Familien, die keinen Platz bekommen, können sich diesen einklagen. Die Stadt muss also weiter Plätze schaffen – auch durch neue Kitas, die wiederum vorhandenen weiteres Personal abziehen.

2. Der Personalmangel wird immer dramatischer
Gleichzeitig wird die personelle Situation in den bereits vorhandenen Einrichtungen immer schlechter. „Wir haben einen eklatanten Personalmangel“, bestätigt Ulrike Weiß, Kirchenpflegerin der Katholischen Gesamtkirchengemeinde. Die Folge: „Es gibt quasi wöchentlich vorübergehende Reduzierungen der Öffnungszeiten, tageweise Schließungen. Das gehört mittlerweile zum Tagesgeschäft“, so Weiß. Laut Stadtsprecherin Andrea Kreuzer habe es in den städtischen Einrichtungen zwar keine Teilschließungen mit Notbetreuung gegeben, vereinzelt seien die Öffnungszeiten aber eingeschränkt gewesen.

Ulrike Weiß sieht mehrere Ursachen für den akuten Personalmangel. Seit der Pandemie würden sich die Mitarbeiter schneller und vor allem auch länger krank melden, außerdem gebe es Erzieherinnen, die die Rahmenbedingungen nicht mehr akzeptieren oder schlicht dem Stress nicht mehr gewachsen seien. „Manche reduzieren ihre Arbeitszeit oder geben ihren Beruf ganz“, erklärt Weiß. Auch Erzieherinnen, die selbst Mütter seien, könnten aufgrund verkürzter Betreuungszeiten nicht mehr so zur Verfügung stehen wie früher. Ein Teufelskreis, der sich also auf alle Branchen in Friedrichshafen, in denen viele Frauen arbeiten – Kliniken, Arztpraxen, Schulen, Einzelhandel und vieles mehr – auswirkt.
3. Es gibt zwar einen Krankheitsvertretungspool, aber der ist leer
Finanziell hat Friedrichshafen dank der Zeppelin-Stiftung zwar andere Möglichkeiten als andere Kommunen, um Freiwilligkeitsleistungen – wie zum Beispiel einen Krankheitsvertretungspool – zu finanzieren. Theoretisch. Denn in der Praxis ist dieser Pool aufgrund des Fachkräftemangels leer gefegt. „Unsere städtischen Mitarbeitenden aus dem Krankheitsvertretungspool wurden mittlerweile alle fest einzelnen Einrichtungen zugeordnet, flexible Springer und Krankheitsvertretungen sind derzeit ausgeschrieben“, so Kreuzer. Da die personelle Situation in den Kitas der Stadt auch angespannt sei, könnte in Notzeiten auch nicht in Einrichtungen anderer Träger ausgeholfen werden. Eine einheitliche Erfassung des Krankenstandes für alle Träger in Friedrichshafen gibt es nicht. Es ist also unklar, wie viele zusätzliche Stellen es in den Einrichtungen überhaupt bräuchte, um die hohen Krankenstände abzufedern.
4. Das Land will Zusatzkräfte und größere Gruppen
Das Kultusministerium präsentiert einen Lösungsansatz, der offenbar für die Träger nicht umsetzbar ist. „Um Notsituationen vor Ort abzufedern, hat das Land mit der Änderung der KiTaVO die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, im Kindergartenjahr 2022/2023 unter bestimmtem Bedingungen Fachkräfte nach Entscheidung des Trägers durch Zusatzkräfte zu ersetzen oder im Ausnahmefall bis 31. August 2023 zusätzliche Kinder in die Gruppen aufzunehmen“, schreibt eine Sprecherin des Ministeriums auf Anfrage. „Für kurzfristige Lösungen ist das nicht geeignet, solche Tandems müssen trotzdem etliche rechtliche Ansprüche erfüllen“, erläutert Kirchenpflegerin Weiß. Sie mahnt an, dass es sich dabei um ungelernte Kräfte ohne pädagogischen Hintergrund handelt, die dann adhoc in einer fremden Einrichtung Kinder betreuen, die sie nicht kennen. Qualität und pädagogische Förderung blieben dabei völlig auf der Strecke. Auch Kita-Fachverbände, frühkindliche Pädagogen und Gewerkschaften monieren schon lange, dass solche Notlösungen auf Kosten der Qualität gingen.
5. Eltern haben keinerlei Ansprüche auf freie Tage oder Ausgleich
Schließt eine Kita plötzlich oder verkürzt die Öffnungszeiten, heißt das für viele berufstätige Eltern, dass sie ihren Job nicht mehr ausführen können. Während der Corona-Pandemie wurden Kitaschließungen durch den Anspruch auf unbezahlten Urlaub und eine Lohnersatzleistung vom Staat abgefedert. Das ist jetzt nicht der Fall. Eltern, deren Kinder nicht betreut werden können, haben keinerlei Recht, zuhause zu bleiben, um sich um das Kind zu kümmern. Studien zeigen sehr deutlich, dass die prekäre Betreuungssituation dazu führt, dass Frauen weniger erwerbstätig sind. Seit der Pandemie gibt es messbare Rückschritte in Sachen Gleichstellung.