Eine tiefernste junge Frau erzählt ein Märchen: die grausame Schneekönigin küsst einen Waisenjungen und entführt ihn später am Tag seiner Hochzeit in ihr Reich. Louise Wehr erzählt auf ihrer Geige. Ins zärtliche Wiegenlied mischen sich dunkel drohende Töne, auf schroffen Akkorden naht das Unheil. Igor Strawinskis Ballet „Le baiser de la fée“ basiert auf Motiven des Andersen-Märchens und ist musikalisch eine Hommage an den – in den 1930ern total unmodernen – Tschaikowski. Strawinski verdichtete das Ballet zu einem Divertimento für Violine und Klavier – mütterliche Hingabe, tosender Schneesturm, eisiger Kuss sind in Wehrs Spiel genauso hörbar wie die Verwirrung des Jünglings und die Verzweiflung der Braut. Die 19-jährige Münchnerin Louise Wehr studierte am Hannoverschen Institut zur Frühförderung musikalisch Hochbegabter, ist seit 2014 in der Geigenklasse von Professor Krzysztof Wegrzyn und hat zahlreiche Preise erspielt, unter anderem den „Eduard-Söring-Preis“ der „Deutschen Stiftung Musikleben“.
Sie ist eine von vier Geigerinnen, die das internationale Violinfestival junger Meister im Schloss Langenargen eröffnen – und sie stellt unter Beweis, was Festivalpräsident Jürgen Vogel als Anliegen formuliert: Konzerte und öffentliche Meisterkurse in der Bodenseeregion sollen zeigen, dass jeder Musik verstehen kann. „In dieser Zeit, in der schreckliche Dinge passieren, müssen wir uns klar werden, welche Werte wir verteidigen wollen“, sagt er. Musik als universelle Sprache könne dabei helfen.
Direkt verständlich ist die ungestüme Kraft, die von der nächsten Solistin ausgeht: Ioana Cristina Goicea, geboren 1992 als Tochter der rumänischen Geigerin Cristina Anghelescu, Preisträgerin beim Fritz-Kreisler-, Michael Hill und Brahms-Wettbewerb, musizierte neben ihrem Masterstudium in Hannover mit der „George Enescu“ Philharmonie Bukarest, den Kunitachi Symphonikern und der Norddeutschen Philharmonie Rostock. In Langenargen entfesselt sie auf ihrer Guadagnini Gefühle von elementarer Wucht, selbst im bebenden Piano schlummert unbändige Energie. Edvard Griegs dritte Violinsonate von 1889 verbindet romantische Tonsprache mit norwegischer Folklore: Erst lodert es stürmisch auf der G-Saite, nach einer melancholische Melodie stürzt sich die Geige in wilde Doppelgriffe. Den zweiten Satz eröffnet träumerisch perlend das Klavier, ehe Goicea rauen Schmerz in Geigentöne verwandelt. Am Klavier sitzt den ganzen Abend lang Natsumi Ohno, Lehrbeauftragte für Klavier an der Musikhochschule Hannover und vor allem als Begleiterin renommiert. Sie nimmt jede Schwingung der Solistinnen auf, geht mit ihnen durch Drama und Tanz, folgt in Solopassagen ihrem Timbre und lässt ihnen immer den Vortritt. César Franck schenkte seine Violinsonate 1886 dem Stargeiger Eugène Isaye zur Hochzeit – der führte sie gleich dort und dann immer wieder auf. Nach einer sachten Einleitung vom Klavier übernimmt Yuliia Van höchst sensibel – wie weiche Wellen fließt es von den Saiten. Die 19-jährige gebürtige Ukrainerin war Jungstudentin der Spezialmusikschule Lysenko, studiert heute in Hannover und ist Stipendiatin der Stiftung Yehudi Menuhin Live Music Now.
Ihr Spiel ist eine Mischung aus Hochspannung und offenen Nervenenden. Sie umgibt die ersten drei Sätze, vom liedhaften Beginn über das dunkel-aufgeregte Allegro bis zum ätherischen Recitativo mit fassbarer Trauer, ehe der letzte sich vom freundlichen Beginn zum jubelnden Triller steigert. Der Geiger Henri Wieniawskis schrieb seine Fantasie über Faust als Violin-Bravourstückchen zu Motiven der Oper Gounods. Martina Miedl, 19-jährige Geigenstudentin aus Österreich, hat mehrfach nationale und internationale Preise errungen und gab 2015 ihr Debüt im Wiener Konzerthaus. Tiefen Seufzern folgen rasante Wirbel, in denen Miedl auf allen Saiten gleichzeitig zu zupfen und zu springen scheint und dabei Triller, Doppelgriffe und Flageoletts einander jagen. Das Andante singt sie sanft versunken, zwischen Hauch und Mutwillen changiert der Walzer – ein virtuoser Schlusspunkt des Abends.