„Ich sehe mich nicht als Vertreterin jüdischer Menschen“, sagt Andrea von Treuenfeld auf Nachfrage. Vielmehr sei das, was sie mache, eine Dokumentation. In ihren Büchern lasse sie die Menschen selbst zu Wort kommen, statt über sie zu schreiben. „Ich stelle bei einem solchen Gespräch mein Tonband auf den Tisch und lasse es mitlaufen“, schildert sie ihre Arbeitsweise. Ihr Buch „Jüdisch jetzt!“ stellte sie jüngst bei einer Veranstaltung im Überlinger Augustinum vor.

Von Treuenfeld hat Interviews geführt mit jungen jüdischen Menschen in Deutschland. Manche haben Verwandte im Holocaust verloren, andere keinen familiären Bezug zu diesem dunklen Kapitel deutscher Geschichte. Was sie eint: Sie wollen gesehen werden, als Ganzes wahrgenommen und nicht allein oder vorrangig über ihr Jüdischsein definiert.

Andrea von Treuenfeld spricht im sehr gut besetzten Theatersaal des Überlinger Augustinums.
Andrea von Treuenfeld spricht im sehr gut besetzten Theatersaal des Überlinger Augustinums. | Bild: Lena Reiner

Diskriminierung und Angst stehen im Mittelpunkt

Und noch ein Thema zieht sich durch die Texte, die die Autorin vorträgt: die Angst. Schon lange vor dem 7. Oktober 2023 machten jüdische Menschen in Deutschland Diskriminierungserfahrungen. „Fußballspiele jüdischer Sportvereine standen immer unter Polizeischutz“, schildert die Autorin etwa. Seit dem 7. Oktober seien diese gar nicht mehr möglich; es sei zu gefährlich. Jüdische Eltern schickten ihre Kinder nicht mehr in die Kitas, ein Davidstern werde maximal noch versteckt unterm Pullover getragen: „Die Angst ist da.“ Am 7. Oktober verübte die islamistische Terrororganisation Hamas ein Massaker, auf das Israel militärisch reagierte.

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Auch Olivia Schnepf, die den Abend als Kulturreferentin des Augustinums gemeinsam mit Ruth Frenk von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bodensee und Pfarrerin Bettina Kommoss von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit als Moderatorin ausrichtete, sprach von einer „beklemmenden Aktualität“, die die Veranstaltung bekommen habe.

„Wenn ihr schon da seid, schuldet ihr uns traurige Geschichte“

Dann geht es hinein in die Lebenswirklichkeiten jüdischer Menschen in Deutschland. Andrea von Treuenfeld geht etwa auf jene der 1981 in Leningrad geborenen Schriftstellerin Lena Gorelik ein, die schon mehrfach die Region besuchte, unter anderem beim Überlinger Festival Wort-Menue 2005. Gorelik wuchs damit auf, dass ihr Jüdischsein unsichtbar bleiben sollte. „Jude“ sei ein Schimpfwort wie „Blödmann“ gewesen; auf dem Spielplatz habe es geheißen: „Geh zur Seite, du Jude!“

Dann auf einmal, in Deutschland, wurde Gorelik ab ihrem zwölften Lebensjahr ständig auf ihr Jüdischsein angesprochen. Als 14-Jährige musste sie ihrer Klasse den Nahostkonflikt erklären, obwohl sie damals nicht einmal genau gewusst habe, wo der Nahe Osten sei. Überhaupt kritisiert Gorelik die Anspruchshaltung, die Menschen wie ihr – oder auch Geflüchteten – von der Mehrheitsgesellschaft entgegengebracht werde. Da gebe es dieses: „Wenn ihr schon hier seid, dann schuldet ihr uns auch die traurigen Geschichten.“

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Berliner fordert Grundrespekt, keine Emotionen

Der 1989 in Israel geborene Regisseur Noam Brusilovsky schildert ebenso kuriose Reaktionen. Das beginne bereits damit, dass sein Israelischsein – er ist auch deutscher Staatsbürger – in den Medien betont werde, als sei es ein Qualitätsmerkmal seiner Arbeit.

Der Berliner fordert „Grundrespekt“, keine Emotionen wie „I love Israel“ oder „Wir lieben Juden“, denn diese Obsession, wie er die Liebe der Deutschen zu Israel bezeichnet, mache ihm Angst. Gefühle änderten sich ständig: „Und wenn die Liebe weg ist, dann ist da etwas anderes.“ Mehr noch: Er bezeichnet diese Liebe als Selbstinszenierung; sie bedeute im Subtext: „Ich bin ganz korrekt, ich bin im Mainstream.“ Das deutsche Moralisierende stelle sich an die richtige Seite.

Deutschland verändere die Identität von Juden

Die 1974 in Tel Aviv geborene Journalistin Shelly Kupferberg schildert gar, wie sich die Identität der Menschen dadurch verändere. Ihre Eltern und deren Freunde seien als Israelis nach Deutschland gekommen und dort nach und nach zu Juden geworden. Sie fingen hier an, die Synagoge zu besuchen, weil es hier eine ganz andere Auseinandersetzung mit dem Jüdischsein gebe als in Israel: „Irgendwo ereilt sie dich dann doch, die Historie.“

In Berlin sei das besonders präsent; die S-Bahn-Linie, in deren Nähe sie wohne, ende in der einen Richtung in Oranienburg, wo das KZ Sachsenhausen gelegen habe, und in die anderen Richtung am Wannsee und erinnere sie damit an die Wannsee-Konferenz. Und auch sonst bestimme Geschichte ihren Alltag: „Ich kann kein Gelb tragen, ich kaufe keine gestreiften Pyjamas.“

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Auch Rapper Ben Salomo, mit bürgerlichem Namen Jonathan Kalmanovich, schildert die Prägung durch die Geschichte; etwa die Kindheitserinnerung an seinen Opa, der sein Gebiss auf den Tisch legte und erzählte, dass ihm als Elfjähriger ein Wehrmachtsoldat die Zähne mit einem Gewehrkolben ausgeschlagen habe.

Kalmanovich steht mit seinen Musikprojekten in der Öffentlichkeit. Wann immer er sich gegen Wendungen aus dem Naziregime ausspreche, erlebe er Anfeindungen. „Nur ein toter Jude ist ein guter Jude“, erinnert etwa jemand an den Nazi-Ausspruch in der Kommentarspalte zu einem seiner Beiträge in den sozialen Medien. Und das schon lange vor dem 7. Oktober 2023. Nicht nur da wird deutlich: Die Drohungen gegen jüdische Menschen in Deutschland hat es immer gegeben; sie sind nur aktuell besonders laut und sichtbar.

Eine Frau im Publikum stellte sich als jüdische Französin vor und erinnerte daran, dass die Trennung in Deutsche und Juden eine künstliche sei, ein Automatismus, den man wieder ablegen solle: „Das ist bereits ein Teil des Problems. Es gibt jüdische Deutsche, es sind nicht die Juden und die Deutschen.“