Antonia Kitt

„Ich bin immer wahnsinnig stolz, die Tracht anziehen zu dürfen. Das Tragen der Tracht löst ein ganz besonderes Gefühl in einem aus.“ So beschreibt die 19-jährige Überlingerin Katharina Tittel, was sie empfindet, wenn sie ihr seidenes Trachtenkleid anlegt, das Haar hochsteckt und die kostbare Radhaube aufsetzt. „Der Stoff unterscheidet sich von all der Kleidung, die man heutzutage so trägt, man hat besonderen Schmuck und man trägt eine Haube, die einen automatisch aufrecht gehen lässt,“ sagt die junge Frau.

Schon die kleinsten Mädchen schlüpfen mit Spaß in die Tracht und oft waren schon Mutter oder gar Großmutter dabei. Dieses Bild entstand ...
Schon die kleinsten Mädchen schlüpfen mit Spaß in die Tracht und oft waren schon Mutter oder gar Großmutter dabei. Dieses Bild entstand bei der zweiten Schwedenprozession 2015. | Bild: Stefan Hilser

Momentan gibt es 176 aktive Trachten

Diesen Stolz und dieses besondere Gefühl teilen in Überlingen 176 aktive Trachten im Alter zwischen drei und über 80 Jahren, davon 137 Erwachsene und 39 Kinder und Jugendliche. Zahlen, die in der Stadt mit etwa 21 500 Einwohnern rekordverdächtig sind, denn noch nie seit Gründung des Trachtenbunds im Jahre 1924 – damals waren es fünfzig Gründungsmitglieder – gab es in Überlingen so viele aktive Trachtenträgerinnen wie heute. Wie lässt sich dieser positive Trend erklären, der sich in Zeiten vollzieht, in denen andernorts viele Traditionsvereine mit großen Nachwuchssorgen zu kämpfen haben?

Auch bei offiziellen Anlässen sind sie unverzichtbar. Nach seinem Amtseid im Februar 2017 entführten Trachtenmutter Renate Lohr (links) ...
Auch bei offiziellen Anlässen sind sie unverzichtbar. Nach seinem Amtseid im Februar 2017 entführten Trachtenmutter Renate Lohr (links) und Sigrun Rimmele den neuen Oberbürgermeister Jan Zeitler durch die Menschenmenge im Kursaal ins Foyer, wo er die Festtorte anschneiden durfte. | Bild: Hanspeter Walter

Trachtenmutter Renate Lohr endeckt mehrere Faktoren

Renate Lohr ist die seit 2001 amtierende „Trachtenmutter“, wie die Vorsitzende des Überlinger Trachtenbunds seit jeher bezeichnet wird. Für sie sind es gleich mehrere Faktoren, die das Tragen der Tracht für viele Überlinger Frauen und Mädchen attraktiv machen. Zuerst nennt sie die Teilnahme an den beiden Schwedenprozessionen, die alljährlich stattfinden: “Da sind wir mit unseren farbigen Seidenkleidern und unseren Radhauben ein ganz besonderer und eleganter Blickfang.“ Dann ergänzt sie in bestem Überlingerisch: „Und mir gond it uff jedes Feschd“. Der Zeitaufwand für das Hobby Trachtenbund sei vergleichsweise gering, das Ansehen dafür umso größer. „Wir repräsentieren die Stadt“, sagt Renate Lohr stolz. In vielen Familien sei die Mitgliedschaft auch so etwas wie ein Generationenprojekt. „Wer als Kind schon Tracht getragen hat und dabei geblieben ist, der bringt dann später wiederum seine Kinder mit. Das zeigt doch, dass es Spaß macht,“ meint Renate Lohr.

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Festtag der ehemals freien Reichsstadt Überlingen: Der Schwerttanz auf der Hofstatt lockt an einem Julisonntag alljährlich zahlreiche Zuschauer an, die sich Aufführung begeistern lassen. Hier gut zu sehen die Radhaube mit dem gestickten „Bödele“, dieses Bild entstand am Tag der Schwedenprozession 2007. | Bild: Baur, Martin

Maidlinstänze halten junge Frauen im Verein

Und dann ist da ja auch noch die Schwerttanzkompanie, die im Anschluss an die zweite Schwedenprozession den Schwerttanz und die Maidlinstänze aufführt. So manches junge Mädchen in Überlingen träume eben davon, einmal in Tracht in den Armen eines Schwertletänzers den Hopswalzer und die Kreuzpolka über die Hofstatt zu tanzen. „Die Kompanie hat in den letzten Jahren viele junge Männer aufgenommen, damit gab es auch wieder neue Tanzpartner für unsere jungen Trachten“, sagt Renate Lohr und sie ist überzeugt: „Das Tanzen hält diese jungen Frauen im Verein.“

„Es bringt einfach auch Spaß.“ Was Trachtenmutter Renate Lohr ausdrückt, vermittelt dieses Bild von 2007, es zeigt (von ...
„Es bringt einfach auch Spaß.“ Was Trachtenmutter Renate Lohr ausdrückt, vermittelt dieses Bild von 2007, es zeigt (von links) Katharina Kitt, Alexandra Graubach, Verena Haag, Sophia Munk und Franziska Gäng. Alle sind inzwischen erwachsene Mitglieder im Trachtenbund, vier von ihnen sind Tänzerinnen bei den Maidlinstänzen mit der Schwerttanzkompanie – unser Bild unten zeigt Sophia Munk zehn Jahre später beim Maidlinstanz mit Benedikt Kitt. | Bild: Martin Baur
Das Trachtenkind von einst ist erwachsen geworden: Sophia Munck 2017 beim Maidlinstanz mit Benedikt Kitt.
Das Trachtenkind von einst ist erwachsen geworden: Sophia Munck 2017 beim Maidlinstanz mit Benedikt Kitt. | Bild: Antonia Kitt

Aufmerksamkeit für den Trachten-Nachwuchs

Aber auch eine über Jahrzehnte hinweg kontinuierliche und weitsichtige Vereinsführung machen den Erfolg des Trachtenbunds bis heute aus. Trachtenmutter Gertrud Manok (1921 bis 2009) leitete den Trachtenbund von 1989 bis 2001. Sie erkannte, dass der Trachtennachwuchs besondere Aufmerksamkeit braucht, und führte das Vorstandsamt der Jugendleiterin neu ein. Seither gibt es regelmäßig spezielle Programmpunkte für die Kinder im Verein, die mit Spiel und Spaß das Gefühl der Zugehörigkeit stärken. Für Kinder und Jugendliche hält der Bund einen großen Fundus an Trachtenkleidern, Hauben und Accessoires zur Ausleihe vor. Mädchen zwischen drei und 18 Jahren können so gegen eine geringe Leihgebühr von Kopf bis Fuß, Jahr für Jahr neu ausgestattet werden, ohne dass sich die Familie gleich in Unkosten stürzen muss. Erst wenn sich eine über 18-jährige Trachtenträgerin entscheidet, auch als Erwachsene dem Trachtenbund weiter anzugehören, braucht sie ein eigenes Trachten-Outfit.

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Charakteristisch ist das zweiteilige Seidenkleid

Das heutige Erscheinungsbild der Tracht basiert auf Vorbildern der späten Biedermeierzeit, dem frühen 19. Jahrhundert. Charakteristisch ist das zweiteilige, farbige Seidenkleid. Doch was gehört eigentlich alles sonst noch zur Ausstattung einer Überlinger Tracht?

Überlinger Radhauben sind rar

Gertrud Manok war es auch, die einen ersten Haubenkurs initiierte und Frauen ermutigte, sich selbst an das Herstellen einer eigenen Radhaube zu wagen. Erst die Weitergabe und Wiederbelebung dieses Wissens öffnete für viele Überlingerinnen den Weg zur eigenen Tracht und in den Trachtenbund; denn Überlinger Radhauben sind rar. Frau kann sie nur vererbt bekommen, mit etwas Glück gebraucht erwerben, oder eben selbst anfertigen. Auch Tücher, Täschle, Seidenstoffe und den traditionell zur Tracht gehörenden Granatschmuck kauft der Trachtenbund immer wieder auf Vorrat an, um interessierten Frauen bei der Einkleidung helfen zu können.

Überlinger Radhaube mit Hohlspitze, die in den 1970er Jahren aus alten Original-Teilen von Hauben aus dem Allgäu und aus Oberschwaben ...
Überlinger Radhaube mit Hohlspitze, die in den 1970er Jahren aus alten Original-Teilen von Hauben aus dem Allgäu und aus Oberschwaben zusammengesetzt wurde. | Bild: Antonia Kitt
Diese Haube entstand in einem Haubenkurs mit Trachtenmutter Gertrud Manok, gefertigt von der Autorin. Verwendet wurde maschinell ...
Diese Haube entstand in einem Haubenkurs mit Trachtenmutter Gertrud Manok, gefertigt von der Autorin. Verwendet wurde maschinell gefertigter Spitze, das Bödele ist von Hand bestickt. | Bild: Antonia Kitt

Verloren geglaubtes Wissen wiederentdeckt

Die Königsdisziplin ist die Radbespannung mit der sogenannten „Hohlspitze“, bei der die Spitze für das Rad an einem Stück gefertigt wird. Das Wissen um die Herstellung von Hohlspitze galt als verloren. Im Überlinger Museum sind nur noch einzelne Hohlspitzen-Hauben im Original erhalten. Die Villinger Trachtenexpertin Jutta Grothaus konnte sich diese Technik jedoch vor einigen Jahren wieder aneignen. Und sie gibt ihr Wissen in Kursen weiter. Eine Überlinger Trachtenfrau, die diese ebenso kunst- wie mühevolle Machart dort erlernte, ist Ingrid Mezger. Sie hat inzwischen zwei Hauben für sich und ihre Tochter gefertigt. „390 Stunden habe ich für die erste Haube gebraucht“, erinnert sie sich. Die Hohlspitze wird gearbeitet, indem „Plätt“, ein feiner platt gewalzter Metalldraht, um zwei parallel laufende Baumwollfäden gewunden wird. Einige Überlingerinnen beherrschen diese Kunstfertigkeit inzwischen wieder und haben Hauben für sich in Hohlspitze angefertigt.

Hauben-Pionierin Ingrid Mezger mit ihrem Hohlspitzen-Meisterwerk.
Hauben-Pionierin Ingrid Mezger mit ihrem Hohlspitzen-Meisterwerk.

Eine traditionelle Haube für die Tochter

Auch Trachtenfrau Bozena Graubach hat sich eine Radhaube in Hohlspitztechnik selbst angefertigt – der Anleitung im Haubenkurs folgend. Ein ganz besonderes Geschenk für ihre Tochter Alexandra zum 18. Geburtstag. Auch das „Täschle“ hat sie eigenhändig mit Hohlspitzen-Ornamenten verziert.

Bozena Graubach hat ihre Radhaube mit Anleitung im Haubenkurs selbst angefertigt. Das goldglänzende Rad ist in Hohlspitzentechnik ...
Bozena Graubach hat ihre Radhaube mit Anleitung im Haubenkurs selbst angefertigt. Das goldglänzende Rad ist in Hohlspitzentechnik gearbeitet. | Bild: Antonia Kitt
Eine Radhaube entsteht Video: Antonia Kitt

2024 feiert der Trachtenbund Jubiläum

So präsentiert sich der Überlinger Trachtenbund rundum bestens aufgestellt und kann gelassen seinem hundertjährigen Bestehen entgegenblicken, für das im Jahr 2024 bereits einige Feierlichkeiten geplant werden. „Wir wollen auf jeden Fall einen schönen Gottesdienst im Münster feiern und zu einem Festakt einladen“, verrät Trachtenmutter Renate Lohr“. Informationen zu Tracht und Trachtenbund gibt es im Internet.