Elfi Braschel

Es ist 1937, kurz vor Österreichs Anschluss an das Deutsche Reich. In der Zeit spielt der Roman „Der Trafikant“ des österreichischen Schriftstellers Robert Seethaler. Hauptschauplatz ist eine Trafik, ein Zigarren-, Schreibwaren- und Zeitungsladen. Der 17-jährige Franz Huchel kommt aus der Provinz nach Wien, um dort bei Otto Trsnjek, einem alten Freund seiner Mutter, Geld zu verdienen. Dort begegnet er Dr. Sigmund Freud.

Die Württembergische Landesbühne Esslingen hat die von Seethaler selbst geschriebene Bühnenfassung des Romans im Bahnhof Fischbach mit kraftvollen Bildern auf die Bühne gebracht. In ihrer Dichte und Dramaturgie bewegt sich die knapp dreistündige Inszenierung von Hans-Ulrich Becker nah am Buch und macht deutlich spürbar, dass etwas in der Luft liegt, nicht zuletzt durch das Tondokument von Kurt Schuschniggs letzter Rede als österreichischer Bundeskanzler.

Beeindruckendes Bühnenbild

Auf der Mehrzweck-Bühne, die rasche Wechsel möglich macht, ist kein Platz mehr frei. Die hat Frank Chamier in drei Handlungsebenen aufgeteilt: Die Trafik als imposanter Holztresen, ein Holzschrank mit „Aufstiegsmöglichkeit“, und eine Therapiecouch, auf der Freud fieberhafte Träume erlebt. Kostüme und Musik sind wie Zeitzeugen in der Inszenierung, die fest in der Hitlerzeit verankert ist. Mit seiner Bühnenmusik und Klangkunst – Scheppern, Geklapper, Getöse und sphärischen Klängen – lädt Steffen Moddrow die Szenen atmosphärisch auf – ein Spektakel der Extraklasse. Moddrow hat alle Hände voll zu tun und der Zuschauer darf sehen, wie er die Geräusche macht. Martin Theuer ist die ideale Besetzung für den einbeinigen, lebensklugen Trsnjek, bei dem Franz mit verbotenen „Wichsheftln“ in Berührung kommt, die Trsnjek nebenher verkauft.

Illustre Kunden gehen in der Trafik ein und aus, auch der Jude Sigmund Freud. Denn Trsnjek ist kein Antisemit, was ihm noch zum Verhängnis wird. Freud fasziniert Franz, der immer wieder das Gespräch mit ihm sucht. Besonders als er mit der leichtlebigen böhmischen Variététänzerin Anezka seine Sexualität entdeckt, die Nina Mohr als derbes, berechnendes Luder verkörpert. Doch die wechselt ihre Liebhaber wie die Hemden, was Franz in eine tiefe Krise stürzt und ihn den Rat des Psychoanalytikers suchen lässt. Zwar prallt die prekäre politische Lage nach dem Einmarsch der Deutschen in schonungsloser Eindringlichkeit auf die seelische Achterbahn des 17-Jährigen, doch ist es Becker gelungen, diese beiden konträren Handlungsstränge so geschickt miteinander zu verquicken, dass sich keine Brüche ergeben und der Zuschauer dem Geschehen gebannt folgt.

„Die Welt ist verrückt geworden“

Die antisemitischen Ausschreitungen nehmen zu, die Stimmung heizt sich auf – am plastischsten in Szene gesetzt, als die Gestapo Trsnjek foltert und abholen lässt und auch mit dem einschreitenden Franz nicht lange fackelt. Den hat der Fleischhacker (grobschlächtig Antonio Lallo) verraten, von dem Trsnjek gesagt hat: „Der hat Blut an den Händen und die schwarze Gemeinheit im Herzen. Und wir stehen da und sagen nix.“

Ein bisserl Wiener Schmäh, aber nicht zu dick, und vergnügte Bierseligkeit im Prater mit der Leichtigkeit Wienerischer Lebensfreude bringen die Geschichten über die Grausamkeiten und Herzeleid ins Gleichgewicht. Über die skurrilen Typen, die sich in der Trafik die Klinke in die Hand geben, darf man schmunzeln, herzlich lachen sogar über die schrille Variété-Show, die mit witzigen Einfällen daherkommt, zum Beispiel einer Hitler-Parodie, in der Hitler sich schließlich als bellendes Hündchen einer Domina unterwirft und Anezka als leicht bekleidete Indianerin auf klischeehaftes Indianergeheul und Trommeln erotisch ihre Hüften schwingt. Vielleicht auch ein Hinweis auf Freuds Überzeugung: „Die Welt ist verrückt geworden.“

Ein großer Wurf

Freud zeichnet Becker als gutmütigen, väterlichen Freund (Peter Kaghanovitch), der von der Naivität des Jugendlichen profitiert. Felix Jeiter lebt den Franz mit all seiner Unbedarftheit, seinen Zweifeln und seinem Liebeshunger. Schön sind die Gespräche zwischen Franz und dem „Deppendoktor“, ein sprachlicher Genuss der liebevoll-zärtliche Austausch auf Postkarten zwischen der gluckenhaften Mutter und dem sich langsam abnabelnden Sohn.

Am Ende schrecken einen die Geister der Toten aus der wunderbaren Traumwelt auf. Im Kanon und Sprechchor künden sie aufgeregt von einem, der die Hakenkreuzfahne heruntergenommen und stattdessen eine Hose aufgezogen hat, deren eines Bein in eine unbestimmte Richtung zeigt. Vielleicht deshalb: „Wer weiß schon, was sein wird.“ Ein großer Wurf.