Ein Impfzentrum im Jahr 1857? Das Werk „Die Impfstube“ des Hagnauer Malers Reinhard Sebastian Zimmermann erzählt davon. Nachzulesen ist die Geschichte dazu im aktuellen Band des Kreis-Jahrbuchs „Leben am See“. Das Bild zeigt Frauen und Kinder in einer Stube – sie sind zentral – sowie geschäftig wirkende Männer am Rande. Geimpft wird in der Szenerie gegen die Pocken. Bayern, Baden und Württemberg führten ab 1807 nach und nach die Impfpflicht ein.
In Wellen ähnlich wie beim Coronavirus wurden die Menschen in der Geschichte immer wieder von der Infektionskrankheit heimgesucht. So wurde 1874 die Impflicht im Deutschen Reich erlassen, in den 1960er Jahren setzte sie die Weltgesundheitsorganisation WHO weltweit um. Viele erinnern sich noch an ihre eigenen Pockenschutzimpfungen, etwa in der Schule.

Pockenimpfung im örtlichen Dorfgasthaus
Bei Simone Sauter spielen sich die Erinnerungen dagegen im Dorfgasthaus ab, das seit 1853 in Familienbesitz ist: im Löwen in Leustetten. „Ich weiß, dass ich selber bei uns im Haus gegen Pocken geimpft wurde“, berichtet sie. Das Jahr kann sie nicht nennen. Es muss aber in den 70ern gewesen sein: „Da war ich ein Kind.“ Die Impfaktionen waren ihrer Wahrnehmung nach etwas Normales. „Es kamen alle aus dem Dorf. Es war klar: Der Termin ist dann und dann.“

Den Anbau, den kleineren Teil der Gastronomie, gab es zu jenem Zeitpunkt schon. Die Besucher seien praktisch im Nebenzimmer von einem Ärzteteam geimpft worden. „Es spiegelt das wider, was eine Gastwirtschaft war“, sagt Simone Sauter: mitten im Ort, jedem bekannt, immer jemand zu Hause. „Das ist ein bisschen verloren gegangen. Man hätte sich so etwas für die Corona-Impfung gewünscht“, anstatt kreisweit auf die Suche nach Impfterminen zu gehen, ist sie überzeugt. Die Impfaktion jüngst in der örtlichen Graf-Burchard-Halle sei beispielsweise voll ausgebucht gewesen.
Sichtbare Spuren solcher Impfaktionen finden sich heute in den Museen, wie mit Reinhard Sebastian Zimmermanns Werk „Die Impfstube“, das sich als Dauerleihgabe in der Städtischen Sammlung Friedrichshafen befindet, und in den Archiven. Gregor Öhlrich, Archivar im Kreiskulturamt, teilt zunächst mit: „Leider muss ich Ihnen Fehlanzeige melden. Das Kreisarchiv verwahrt keine Informationen zu Pockenschutzimpfungen oder Ähnliches.“ Allerdings verweist er auf die größeren Städte Überlingen, Friedrichshafen und Tettnang, dass dort möglicherweise Informationen vorliegen könnten.
Eine Akte im Überlinger Stadtarchiv
Der Überlinger Stadtarchivar Walter Liehner meldet dann tatsächlich eine Akte zu Pockenschutzimpfungen in den Jahren 1960 bis 1973. Der letzte Pockenfall in Deutschland trat 1972 auf. Es handelt sich um Unterlagen aus dem Gesundheitsamt Überlingen, als der Altkreis Überlingen noch bestand. Er wurde im Zuge der Kreisreform zum 1. Januar 1973 aufgelöst.

Im historischen Stadtarchiv in Überlingen ist diese Akte erfasst und einsehbar. Es sind Dokumente, die durch die Jahre 60 bis 73 führen, darunter Anregungen für die Aufstellung eines Pockenalarmplanes, die die Gemeinden über den Deutschen Städtetag bestellen konnten. Der Alarmplan ist ein Leitfaden für medizinisches und anderes Personal, wie sich bei größeren Ausbrüchen zu verhalten ist, inklusive der Einrichtung von Quarantäne-Stationen.
So waren die Impflokale eingerichtet
Vornehmlich handelt es sich bei den Dokumenten jedoch um die Bekanntgabe von Impfterminen und Angaben dazu, wie die jeweiligen Impflokale einzurichten sind. So ist mehrfach zu lesen: „Das Impflokal muss hell und genügend groß sein. Es ist tagszuvor gründlich zu reinigen, am Impftage genügend zu lüften und dann zu heizen. Es werden zwei geheizte Räume für die Impfung benötigt. Für ausreichende Sitzgelegenheit ist zu sorgen sowie zwei Tische für den Impfarzt bereitzustellen.“ Die Rede ist ebenso von einem Waschbecken mit warmem Wasser, sauberen Handtüchern und Seife.

Bei den Impfterminen waren stets die Ärzte, der Ratsschreiber, Lehrer und „zur Aufrechterhaltung der Ordnung ein Beauftragter der Ortspolizeibehörde“ anwesend. Außerdem waren eine Schreibkraft und die zuständige Hebamme vor Ort. Letztere musste dem Amtsarzt ihr Tagebuch und ihren Instrumentenkoffer präsentieren. Bei Abwesenheit der Hebamme sollte eine Krankenschwester beim Impfen mithelfen. Bei den Nachschauterminen reichte freilich weniger Personal.
Mit den Anweisungen wurden Listen mit Erst- und Wiederimpflingen verschickt, wie herauszulesen ist. Die Namenslisten wurden der Akte aber nicht nochmals zusätzlich beigefügt. Die Informationen flossen vom Gesundheitsamt zum Bürgermeisteramt weiter zu den Schulen oder dem Krankenhaus. Studiendirektor Huber wurde am 18. März 1960 etwa darüber informiert, dass die „diesjährige Pockenschutzimpfung für die Schüler des Gymnasiums am Mittwoch, den 30. März, vormittags 11 Uhr in der Volksschule stattfindet“. Geimpft wurde bei diesem Termin hauptsächlich der Jahrgang 1948.
Das Gymnasium musste daraufhin die impfpflichtigen Schüler in Kenntnis setzen und dafür Sorge tragen, dass sie ein ausgefülltes Merkblatt von ihren Erziehungsberechtigten unterschreiben lassen und bei der Impfung wieder vorlegen. Ihnen wurde wiederum ein Impfschein ausgehändigt. Auch der SÜDKURIER wurde immer darum gebeten, die Impftermine für die Klein- und Schulkinder in der Lokalzeitung zu veröffentlichen.
Bußgeld oder Gefängnis bei Widerstand
Nicht nur rund um das Coronavirus wird um eine Impflicht gestritten. Der Freiburger Mediziner A. Kußmaul debattierte im 19. Jahrhundert beispielsweise mit dem Hagnauer Pfarrer Heinrich Hansjakob um die Impflicht gegen Pocken. Und auch im 20. Jahrhundert muss es Kontroversen diesbezüglich gegeben haben. In den Hinweisen ist an mehreren Punkten nachzulesen, dass Erziehungsberechtigte, die ihre Kinder oder Pflegekinder trotz Impflicht nicht impfen lassen, entweder bis zu 50 D-Mark Bußgeld zahlen oder bis zu drei Tage in Haft müssen.
Es bleibt: der dörfliche Zusammenhalt
Trotz aller Maßnahmen und etwaigen Konflikte um diese, ist es bei der Leustetter Gastwirtsfamilie Sauter aber der dörfliche Zusammenhalt, der in Erinnerung bleibt, und eine Anekdote, die ins Jahr 1938 zurückführt. Simone Sauter erzählt, dass damals ihr Vater geboren wurde. „Nach drei Mädchen hatte mein Opa einen Jungen, doch er konnte es keinem erzählen.“ Denn der Ort stand just in der Zeit wegen Maul-und-Klauenseuche bei den Tieren unter Quarantäne. „Die Bewohner durften nicht auswärts“, verrät Sauter, was ihrem Opa Geduld abverlangte.