Sie leben seit rund 50 Jahren in und um die Hauptstadt herum. Lassen Sie uns aber statt über das ferne Berlin etwas mehr über Überlingen reden. Gibt es noch ein Gefühl von alter Heimat zum Bodensee?
Ja, das ist die alte Heimat für mich. Ich habe hier meine Jugend verbracht, bin in Hohenfels zur Schule gegangen, besuchte in Überlingen das Gymnasium und war dann in Wilhelmsdorf im Internat. Wir wohnten erst in Salem und dann in Hohenbodman, meine Mutter lebte dort noch bis zu ihrem Tod im Jahr 2011. Pubertät und Jugend sind so voller erster Erfahrungen und innerlicher Veränderungen, dass ich sie für eine ganz wichtige Zeit halte – und die habe ich hier verbracht. Ich habe hier auch heute noch Schulfreunde und Weggefährten. Ich bin oft und sehr gerne hier – zwar „neigschmeckt“, aber doch Heimat.

In Ihrem Buch geht es um Ihre Jugend in Überlingen, um die erste Schülerdemo, um die erste Liebe zu einem Studenten aus Oxford, der Referendar am Gymnasium war. Das kostete Sie zunächst Ihre Schulkarriere, wie war das damals?
Er war meine erste große Liebe und wir trafen uns heimlich am Andelshofer Weiher. Ich kam mit dem Pferd aus Hohenbodman und er zu Fuß aus Überlingen. Es war ein wunderbarer Sommer und ich war unheimlich stolz, wir gingen miteinander, so nannte man das damals. Leider wurden wir von den Söhnen eines Lehrers beobachtet und verpetzt. Ich wurde dann zwei Mal nicht versetzt und so kam ich nach Wilhelmsdorf und baute dort mein Abi. Der Student aus Oxford wurde dorthin zurückgeschickt. Zur Schülerdemo auf der Hofstatt kann ich sagen, es war eine sehr politische Zeit in den 1960er Jahren. Viele verkrustete Strukturen wurden aufgebrochen und wir demonstrierten selbstverständlich auch hier in Überlingen.
Sie sind direkt im Anschluss an das Abitur nach Berlin gegangen. Wie kommt man aus dem behüteten Überlingen geradewegs in das damals besetzte und berüchtigte Rauch-Haus nach Berlin?
Ich war in der elften Klasse auf einer Klassenfahrt zum ersten Mal in Berlin und schon da war mir klar, ich gehe dorthin. Meine Familie ist aus Berlin und ich ging quasi "back to the roots“ (zurück zu den Wurzeln). Es war ganz allgemein eine Aufbruchstimmung und auch politisch war eine Menge los in Berlin. Als damals ein sehr guter Freund dorthin zog, ging ich mit. Was ich dann alles erlebt habe, politisch, meine Arbeit als Krankenschwester und wie es zum Tempodrom-Zelt, zum Neubau und schließlich auch zur Tempodrom-Affäre kam, darüber habe ich mein Buch geschrieben.
Würden Sie heute den jungen Menschen hier raten, ebenfalls nach Berlin zu gehen, weil dort mehr los ist?
Nein, solche Ratschläge gebe ich sicher nicht. Wir leben jetzt zwar auch wieder in einer unsicheren Zeit, aber dennoch in einer globalen Gesellschaft. Es gab hier in Überlingen immer schon eine kreative und spirituelle Seite. Hier ist auch geografisch eine besondere Lage im Dreiländereck. Zudem erlebe ich die sehr hohe Qualität hier mit dem See und den Bergen, aber ich liebe eben das Karge. Und das finde ich jetzt im Umland von Berlin.
Hegen Sie aufgrund der Berichterstattung zur Tempodrom-Affäre einen persönlichen Groll gegen die Medien?
Ich habe mich nach der sogenannten Tempodrom-Affäre erst einmal zwölf Jahre sehr zurückgezogen und das tat mir gut. Natürlich war mir klar, dass ich jetzt mit Veröffentlichung meines Buches auch mediale Öffentlichkeit erzeuge. Ich bin aber nicht nachtragend und habe selbst viele Jahre für die Künstler im Tempodrom Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Allerdings sehe ich heute die Medien als besonderes Korrektiv. Die Versuchung zur Beeinflussung ist daher groß.
Wieso lassen Sie nach dem von Ihnen im Buch sehr ausführlich beschriebenen Presserummel den Leser wieder sehr nah an sich herankommen? Warum haben Sie das Buch geschrieben?
Die Motivation war hauptsächlich, dass ich gerne schreibe und damit einen Kreis geschlossen habe. Außerdem finde ich es wichtig, auch persönliche Erinnerungen und gleichermaßen den Geist der Zeit festzuhalten und weiterzugeben. Am liebsten schreibe ich Gedichte! Ich bin eine leidenschaftliche Leserin, übrigens wie meine Mutter. Kein Buch ist interessant, wenn der Autor nicht teilt. Damit meine ich nicht nur Glücksmomente, sondern auch Krisen, Dinge die Schmerzen gemacht haben. Eine reine Aufzählung der Dinge wäre doch uninteressant gewesen.
Zur Person
Irene Moessinger, Jahrgang 1949, verbrachte ihre Kindheit in Andalusien und ihre Jugend am Bodensee. Dort ging sie in Hohenfels und auf dem Gymnasium in Überlingen zur Schule und machte ihr Abitur in Wilhelmsdorf. 1970 zog sie nach Westberlin, lebte in einem besetzten Haus und arbeitete als Intensivkrankenschwester im Urban-Krankenhaus. 1980 gründete sie mit Freunden das Tempodrom und leitete es 25 Jahre lang. Heute lebt sie im Berliner Umland und arbeitet therapeutisch mit Menschen und Pferden. Sie ist Mutter und Großmutter.
Lesung in der Buchlandung
Ein Hauch des wilden Berlins in den 1968er Jahren wehte durch die Buchlandung in Überlingen. Irene Moessinger war gekommen, um aus ihrem Buch „Berlin liegt am Meer“ zu lesen. Auf 451 Seiten nimmt sie darin ihre Leser mit auf eine Zeitreise durch ihr bewegtes Leben. Beginnend mit ihrer Kindheit im andalusischen Torremolinos und ihrer Jugend in Überlingen. „Wir waren schon immer eine etwas andere Familie, unser Käfer sprang im Winter nie an“, las Moessinger aus ihrer Zeit in Hohenbodman.
In Berlin erlebte sie die politische Hausbesetzerszene und verschaffte der jetzigen Hauptstadt 1980 eine sogenannte alternative Spielstätte. Das legendäre Tempodrom. Sänger und Bands wie Nina Hagen und Ton Steine Scherben traten dort in einem Vier-Mast-Zelt am Potsdamerplatz direkt an der Mauer auf.
2001 wurde das Zelt in Beton am Anhalter Bahnhof nachgebaut und steht dort auch heute noch, nachdem die sogenannte Tempodrom-Affäre 2004 große Wellen schlug. Von Anfang an waren die Kosten für den Neubau aus dem Ruder gelaufen und immer neue Kredite gewährt worden, was im April zum Rücktritt von Stadtentwicklungssenator Peter Strieder führte. Irene Moessinger zog sich im Juli 2005 vom Tempodrom zurück und musste sich wegen Untreue vor Gericht verantworten. Das Verfahren endete mit einem Freispruch.