Maike Stork

„Alle Jungen in Deutschland haben die gleiche Frisur.“ Das findet zumindest der groß gewachsene Jugendliche, der bei Lehrerin Nelly Zeiler am Freitagmorgen die Schulbank drückt. Der SÜDKURIER ist zu Besuch bei einer Klasse der Claude-Dornier-Schule (CDS), die Jugendliche mit geringen Deutschkenntnissen auf einen Beruf vorbereitet. Wir haben die Schüler zu den Marotten der Deutschen befragt.

Der junge Mann in der Klasse demonstriert an seinen eigenen Haaren, was er meint, wenn er „gleiche Frisur“ sagt: Die Seiten kurzrasiert, auf dem Kopf länger, und über der Stirn wie eine Welle nach oben gestylt. Andere Schüler lachen und stimmen ihm zu. Dann bemerkt sein Nebensitzer: „Im Essen ist so viel Essig.“ Das sei er aus seiner Heimat nicht gewohnt.

Die VABO-2 in einem Klassenzimmer der Claude-Dornier-Schule.
Die VABO-2 in einem Klassenzimmer der Claude-Dornier-Schule. | Bild: Maike Stork

Ganz abgesehen von den teils ulkigen Beobachtungen: Die Geflüchteten sind an diesem Morgen in der Schule, um zu lernen. Vor allem, mit ihrer neuen Lebenssituation umzugehen. Das Hauptziel des Unterrichts in den Klassen sei, den Jugendlichen das Ankommen in Deutschland zu erleichtern, erzählt Nelly Zeiler. „Wir wollen den Schülern vermitteln, wie das Leben und das Schulsystem in Deutschland funktionieren. Außerdem wolle man sie dabei unterstützen, Freunde zu finden.

In der ersten Reihe meldet sich nun ein Jugendlicher mit blondem Haar. Ab und zu, sagt der junge Mann, mache er Beobachtungen in Bus und Bahn, die er von daheim nicht kenne. Er finde es auffallend, dass viele Leute ihre Tasche oder ihren Rucksack auf den freien Platz neben ihnen legen. „Und selbst wenn eine alte Dame zusteigt, wird der Platz nicht freigemacht.“ Das habe ihn schon öfter erstaunt, sagt er. Passend zum Thema bemerkt eine Mitschülerin: „Und sie kommt oft zu spät, die Bahn.“

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Weil die Jugendlichen noch nicht so gut Deutsch sprechen, ist Nelly Zeiler immerzu als Übersetzerin im Einsatz. Die Lehrerin mit Wurzeln in der Sowjetunion unterrichtet in den VABO-Klassen und spricht fließend Russisch. Sie erklärt: „Die meisten unserer Schüler sprechen beide Sprachen – Russisch und Ukrainisch.“ Das sei der Fall, weil ihre Eltern meist noch in der Sowjetunion gelebt haben. Und dort wurde eben Russisch gesprochen. Daher könne sie sich mit ihnen verständigen, obwohl sie selbst kein Ukrainisch spreche.

Nelly Zeiler ist Lehrerin an der Claude-Dornier-Schule.
Nelly Zeiler ist Lehrerin an der Claude-Dornier-Schule. | Bild: Nelly Zeiler

Welche Marotten haben die Deutschen sonst noch? Aus dem Gemurmel der Klasse geht hervor: Die Straßen sind sauber, der Müll wird getrennt, es sind viele Fahrräder unterwegs, quasi in jedem Dorf gibt es eine Einkaufsmöglichkeit. Zur Verwunderung der Lehrerinnen scheint über ein Thema Einigkeit im Raum zu herrschen: Die Menschen lächeln und sind freundlich – Attribute, die den Deutschen sonst wohl eher weniger zugerechnet werden.

„Sie sind akut in ihrem Trauma“
Sara Wagner, Lehrerin

So gut die Stimmung in der Klasse bei diesem Besuch ist – der Ernst der Umstände schwingt im Schulalltag stets mit. Lehrerin Sara Wagner unterrichtet Mathe an der CDS und ist gleichzeitig Koordinatorin der Klassen. Abseits der Klasse berichtet sie: „Wenn man den Schülern sagt, dass sie in zwei Jahren Deutsch können, dann antworten sie oft: In zwei Jahren sind wir sowieso wieder weg.“ Das mache den Unterricht teilweise sehr schwierig, so die Lehrerin. Denn wozu solle man eine Sprache lernen, die man (vermeintlich) bald nie wieder braucht?

Lehrerin Sara Wagner erklärt: Der Krieg in der Ukraine kam plötzlich. Im Gegensatz zu den Syrern seien die Jugendlichen aus der Ukraine ...
Lehrerin Sara Wagner erklärt: Der Krieg in der Ukraine kam plötzlich. Im Gegensatz zu den Syrern seien die Jugendlichen aus der Ukraine in Frieden aufgewachsen. „Viele von ihnen realisieren deshalb noch nicht, dass sie wohl für lange Zeit in Deutschland bleiben werden.“ | Bild: Maike Stork

Bei den syrischen Geflüchteten im Jahr 2015 sei die Situation zum Beispiel etwas anders gewesen. Sara Wagner: „Da war klar, dass sie hier bleiben werden. Wenn auch nicht für immer, dann zumindest für sehr lange Zeit. „Die ukrainischen Schüler wollen alle wieder heim“, sagt Wagner. „Sie sind akut in ihrem Trauma.“ Daher verstehen sie oft nicht, dass sie nicht so schnell wieder nach Hause zurückkehren können, so die Lehrerin.

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Zwei Schüler einer anderen Klasse erzählen dem SÜDKURIER, wie es ihnen seit ihrer Ankunft am Bodensee geht. Darunter Karina Yuvenko. Das pechschwarze Haar der zierlichen jungen Frau fällt auf ihre Schultern. Seit April sei sie in Deutschland und lebe aktuell mit ihrer Familie in Tettnang, erzählt die 15-Jährige. „ Ich fühle mich wohl am Bodensee“, sagt sie. „Aber ich vermisse die Ukraine sehr.“ Im Sommer sei sie regelmäßig mit Freunden im Bodensee schwimmen gewesen, erzählt Yuvenko.

Karina Yuvenko ist 15 Jahre alt. Im April dieses Jahres musste die Schülerin ihre Heimat verlassen und nach Deutschland fliehen.
Karina Yuvenko ist 15 Jahre alt. Im April dieses Jahres musste die Schülerin ihre Heimat verlassen und nach Deutschland fliehen. | Bild: Maike Stork

Was der Schülerin an den Deutschen auffällt: „Sie sind sehr ruhig und gelassen. Und sie nehmen sich mehr Zeit für die Familie.“ In der Ukraine gebe es weniger Feiertage, die man gemeinsam verbringt, meint die 16-Jährige. Oft arbeiten Eltern sogar an den Wochenenden.

Oleksii Kurov im Gang der Claude-Dornier-Schule.
Oleksii Kurov im Gang der Claude-Dornier-Schule. | Bild: Maike Stork

Auch ihr Klassenkamerad Oleksii Kurov erzählt. Der Jugendliche trägt Hemd und Jeans, er spricht mit ruhiger Stimme. Seit Juni lebe er mit seiner Mutter und seiner Schwester in Immenstaad. Der 18-Jährige studiere momentan noch Informatik an einer ukrainischen Universität, berichtet er. Natürlich alles online. Nelly Zeiler erläutert: In der Ukraine könne man schon nach der elften Klasse ein Studium beginnen. Momentan denke Kurov darüber nach, das Studium in der Ukraine zu unterbrechen. Er wolle schneller Deutsch lernen, sagt er. Danach möchte er sein Studium vielleicht hier fortsetzen.