Markdorf – Der Zweite Weltkrieg sollte bis zu seinem Ende noch ein ganzes Jahr dauern. In Markdorfs Munitionsfabrik im Schießstattweg lief die Produktion auf Hochtouren, während innerorts der Wohnraum knapp wurde. Friedrichshafen und andere Städte lagen in Schutt und Asche, tausende Evakuierte mussten untergebracht werden. Aus dieser Not wurden die Häuser in den beiden Gallusstraßen jenseits der südwestlichen Stadtgrenze geboren. Es wurde geschmiedet und geschürt und Stein auf Stein geschichtet, um möglichst schnell den zahllosen Obdachlosen ein Dach über dem Kopf zu bieten. Weil Baustoffe kaum aufzutreiben waren, musste Behelfsmaterial her: poröse Steine aus schwarzer Schlacke, minderwertiger Mörtel, Hauruckmethoden im Aufbau angesichts des nahenden Untergangs. "Eigentlich waren die Häuser nur Notunterkünfte und hätten irgendwann wieder abgerissen werden sollen", erinnert sich Rosmarie Stinner. Sie ist noch die einzige Anwohnerin, die in der Unteren Gallusstraße geboren und aufgewachsen ist.

Die Häuser haben den Kriegswirren getrotzt und stehen noch immer. Es kamen sogar noch eine ganze Reihe neuer Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinzu. Hübsch präsentieren sie sich aneinandergereiht auf den schmalen, dafür enorm langen Gartengrundstücken. Bis in die 70er Jahre waren die Grundstücke ab der Hälfte lediglich gepachtet. Erst nach langen Verhandlungen wurden diese Flächen den Anwohnern zum Kauf angeboten. "16 Mark haben wir für den Quadratmeter bezahlt", weiß Rosmarie Stinner.

Immer wieder wurde umgebaut und ausgebaut und angebaut. Bei jeder Baumaßnahme kamen die alten Schlackesteine zum Vorschein. Das jüngste der umgebauten alten Häuser ist das der Familie Gradl, die mit ihren drei Kindern in der Unteren Gallusstraße wohnt. "Wir waren ziemlich überfordert mit der Sanierung des Hauses", sagt Mascha Gradl zwei Jahre später. "Wir hatten beim Kauf nie und nimmer damit gerechnet, was hier alles ans Tageslicht kommen könnte." Dass sich das Häuschen längst in properem Zustand und überaus reizvoll zwischen die anderen Häuschen einreiht, ist den Anwohnern der ganzen Straße zu verdanken. "Ohne die Hilfe der Nachbarn hätten wir das nie geschafft", weiß sie heute. "Beinahe jeder hat mitgeholfen; der eine kannte sich mit der Elektrik aus, der andere konnte verputzen und wieder andere sich einfach mal um die Kinder kümmern", zieht Mascha Gradl Bilanz dieser Gemeinschaftsaktion.

Überhaupt scheinen in den Gallusstraßen der Zusammenhalt und die Gemeinschaft großgeschrieben zu werden, auch wenn dies nicht immer so war. Denn mit der Erschließung der neuen Baugrundstücke in der Unteren Gallusstraße kam eine ziemliche Unruhe in die beschauliche Sackgasse. Zunächst mussten nämlich die alten Grundstücke erschlossen werden, war doch bis dato von Kanalisation keine Rede. Kaum vorstellbar, dass es in Markdorf Anfang des 21. Jahrhunderts noch so etwas wie Klogruben gab. War die Grube am Überlaufen, dann in den Espengraben! Als im Januar 2007 mit dem Bau der neuen Straße begonnen wurde, war das Maß tatsächlich beinah voll. Lange Zeit befanden sich die Anwohner im Ausnahmezustand, spätestens mit den wachsenden Neubauten war nichts mehr, wie es früher war.

Längst sind die Strapazen und Annäherungsschwierigkeiten zwischen alten und neuen Bewohnern Schnee von gestern. In der Unteren wie in der Oberen Gallusstraße ist man eng zusammen gewachsen. Nicht nur viele private Feste im kleinen Rahmen, auch große Aktionen bereichern das Leben am beinah vergessenen Ortsrand von Markdorf. "Ich weiß nicht, wie lange es hier schon ein Straßenfest gibt, auch unser Flohmarkt oder unsere dekorierten Adventsfenster gehören zum Straßenbild", sagt Nina Blaschke. "Wenn wir was machen, machen wir das gemeinsam." Vor vier Jahren ist sie mit ihrer Familie von der Unteren in die Obere Gallusstraße gezogen. Es scheint der Grundsatz zu gelten: einmal Gallusstraße, immer Gallusstraße.

Blick in die Geschichtsbücher

Aufgrund von Wohnungsnot vor Kriegsende wurden 1944 die Häuser in der Unteren wie Oberen Gallusstraße als sogenannte Behelfswohnheime für Evakuierte errichtet. Weder Strom noch Wasser waren zu Beginn der Besiedelung des ehemaligen Eisweiher-Gürtels in den Häusern vorhanden. „Wir hatten keine Genehmigung für eine Petroleumlampe“, erzählt die 83-jährige Liselotte Specker aus der Oberen Gallusstraße. „Um abends etwas Licht zu bekommen, haben wir einfach das Herdloch aufgemacht.“ In beiden Straßen gab es mehrere Wasserlöcher, später sogar einen Brunnen, noch später ein Pumphaus, an das man sich anschließen konnte.

„Im Sommer war das Wasser nicht brauchbar“, erinnert sich Liselotte Specker. Dann sei der Vater mit dem Ross in die Stadt gefahren, um ein Fass Wasser zu besorgen.

Zahlen, Zahlen, Zahlen...

1ist die Hausnummer, welche die einzige gebürtige Anwohnerin in der Unteren Gallusstraße beheimatet

2Minuten und 550 Meter sind es laut Google Maps, um Untere mit Oberer Gallusstraße zu verbinden. Nimmt man die Abkürzung über die „Große Wiese“, geht’s in Nullkommanix

44wurden die Behelfswohnheime aus dem Ackerboden gehoben

88Jahre alt wird die älteste Bewohnerin in der Oberen Gallusstraße

151Menschen wohnen insgesamt in den Gallusstraßen; 71 in der Oberen, 80 in der Unteren

Was fehlt in meiner Straße

  • Ein Blitzer auf der B 33, zumindest aber gelegentliche Radarkontrollen, denn die vorbei rasenden Autos sind eine Zumutung.
  • Eine Schallschutzwand zur Bundesstraße, denn der sonore Lärmpegel sinkt nur dann ab, wenn Stau herrscht.
    Was aber oft der Fall ist.
  • Eine bessere Instandhaltung des Fahrradweges, der die beiden Gallusstraßen verbindet, denn dieser ist oftmals aufgrund hereinragender Äste und Wildwuchs nur schwer passierbar.
  • Eine Überquerungshilfe über die B 33 für die Schulkinder zur gegenüberliegenden Bushaltestelle, denn das allmorgendliche Queren ist ein gewagter Spießrutenlauf.
  • Eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf angemessene 50 Stundenkilometer, denn mit rund 150 Anwohnern lassen sich die beiden Straßen längst nicht mehr als außerstädtischer Randbezirk abtun.
  • Eine Umgehungsstraße!