Gudrun Schäfer-Burmeister

"In der Heimat eine Fremde", so heißt das Buch von Anne Overlack, das die Autorin in der Buchhandlung "RavensBuch" am Sonntag vorstellte, zum Abschluss der Friedrichshafener Veranstaltungsreihe "Literaturherbst 2016".

Ein Foto, das Anne Overlack an diesem Vormittag auf die Leinwand projiziert, zeigt einen korrekt gekleideten Herrn, der an Bord eines Schiffes steht und von dort in Richtung des nahen Ufers winkt. Gleichzeitig wendet er sich freundlich dem Fotografen zu. Am Ufer sind neben Bäumen und einem alten Bauernhaus ganz klein am Bildrand zwei Kinder zu sehen, ein Mädchen und ein Junge. Der Mann ist Dr. Nathan Wolf, ein vor und nach der Naziherrschaft wohl geschätzter, angesehener Arzt aus Wangen auf der Höri. Als das Foto entstand, lebte er bereits etwa zwei Jahre in der Emigration im schweizerischen Stein am Rhein. Einmal pro Woche nahm er das Kursschiff auf dem Rhein, um zur vereinbarten Zeit seinen beiden Kindern Hannelore und Gert zu winken, die er im Übrigen sechs Jahre nicht sehen oder treffen durfte. In dieser Zeit starb seine Frau Auguste in einem Sanatorium an Tuberkulose, die Kinder wurden zunächst von Dienstmädchen versorgt. Später mussten sie Arbeitsdienst in Obertürkheim leisten.

Der Buchtitel ist ein Zitat von Hannelore König, geborene Wolf, deren Erinnerungen einen Großteil des Buches ausmachen. Der Untertitel lautet: "Das Leben einer deutschen jüdischen Familie im 20. Jahrhundert."

Neben der Wiedergabe von Interviews mit der 1925 geborenen und 2012 verstorbenen Hannelore König, vereint das Buch familiäre Dokumente wie Briefe und Tagebuchaufzeichungen mit offiziellen Dokumenten, für die Overlack die Bestände mehrerer Archive durchforstet und ausgewertet hat. Die promovierte Historikerin und Literaturwissenschaftlerin lebt ebenfalls auf der Höri. Sie hat diesem Projekt acht Jahre intensiv gewidmet. "So eine Biografiearbeit werde ich sicher nie wieder machen", sagt sie in Friedrichshafen.

Das Ergebnis dieser akribischen, sorgfältigen und fleißigen Arbeit steckt zwischen zwei Buchdeckeln auf 320 Seiten, auf denen wohlgeordnet zu sehen ist, was Overlack gesammelt hat. Fotos, Texte und Abbildungen von Dokumenten sind darin zu einem bemerkenswerten, kurzweiligen Gesamtwerk vereint, in dem man in die Geschichte der Familie Wolf eintauchen kann. Dass diese eine allgemein menschliche Geschichte ist, zeigt Overlack ebenso wie die Besonderheit der Region und die raum- und besitzergreifende Durchdringung des deutschen Nationalsozialismus.

Eine besondere Note erhält das Buch durch die Aufzeichnungen Hannelore Königs, deren literarisches Talent bereits in Kindertagen in lebhaften Schilderungen zu erkennen ist. Auszüge daraus stellt Overlack in ihrer Lesung neben die Jugenderinnerungen der betagten Frau, wodurch auch viele zum Lachen anregende, von ihrer lustigen Seite betrachtete Geschichten die Zuhörer aufs Beste unterhalten.

Fragen aus dem Publikum betreffen die Titelwahl des Buches ebenso wie die Tatsache, dass die Familie nach der Verfolgung offenbar nahtlos wieder an ihr früheres Leben in Wangen angeknüpft hat. Hannelores Bruder Gert lebt heute noch dort und auch Hannelore betrachtete die Höri zeitlebens als Heimat und Sehnsuchtsort, den sie als erfolgreiche Staatsanwältin viele Jahre nur aus der Ferne oder besuchsweise erleben konnte. Sehr wichtig war für sie nicht nur die Aufzeichnung des Lebens ihrer Vorfahren und ihres berühmten Vaters, der als "letzter Jude von Wangen" noch heute bekannt ist. Explizit forderte sie Overlack auf: "Kümmern Sie sich um mich!" Im Gespräch mit ihrer Chronistin bemerkte sie: "Ich finde es schon spannend zu sehen, was in vielen Familien unter den Teppich gekehrt wird, wo es meines Erachtens ja auch gut liegt. Also, ich bin ein großer Anhänger des Unter-den-Teppich-Fegens, weil ich denke, wenn man nur lange genug darauf rum läuft, dann ist die Beule weg. Die allermeisten Leute haben mindestens eine Leiche im Keller." Am Ende ihres Lebens wollte sie wohl den Teppich lüpfen, die Kellertüre öffnen. Und so wurde sie, um Overlack zu zitieren, zur "Heldin meines und ihres Biografieprojekts".