Julia Rieß

Überlingen – Stadtarchivar Walter Liehner und seine Kollegin Nicolette Waibel öffneten für 27 SÜDKURIER-Leser die Pforten der Alten Kanzlei in Überlingen, in der das Reichsstädtische Archiv untergebracht ist. Regelmäßig bietet der SÜDKURIER seinen Lesern den Blick hinter die Kulissen, unter dem Motto "Der SÜDKURIER öffnet Türen". Stefan Hilser, Leiter der Überlinger Lokalredaktion, erklärte, das Stadtarchiv sei für die Tageszeitung ein wichtiger Ansprechpartner, weil die aktuelle Berichterstattung oft im Zusammenhang mit dem historischen Kontext stehe. Darum wisse er, dass "das, was unsereiner googelt, Herr Liehner im Kopf hat." Und dies zudem höchst unterhaltsam an den Mann und an die Frau bringen könne.

Mit dieser Urkunde verlieh Karl V. der Stadt Überlingen das Stadtwappen mit rotem Löwen. Das große Siegel, an der Urkunde ...
Mit dieser Urkunde verlieh Karl V. der Stadt Überlingen das Stadtwappen mit rotem Löwen. Das große Siegel, an der Urkunde befestigt, ersetzte damals die Unterschrift. | Bild: Julia Rieß

Schnell machte Liehner klar: Das Archiv beherbergt nicht nur viele wertvolle historische Dokumente, Bilder und Gegenstände. Sondern das Gebäude selbst ist ein imposanter Zeitzeuge, der bis in die Details gut erhalten ist und immer gut gepflegt wurde. Für die ehemalige Reichsstadt Überlingen war es nicht nur wichtig, mit Türmen und Toren zu glänzen, sondern auch ein prunkvolles Verwaltungsgebäude vorzeigen zu können. Das wurde übrigens auf einem ehemaligen Friedhofsgelände erbaut – daran erinnert das im Jahr 1569 aufgestellte Friedhofskreuz, das zwischen Alter Kanzlei und Münster thront. 1598 bis 1600 wurde die Alte Kanzlei gebaut. Im Inneren überraschen die prachtvoll bemalten Decken der Steingewölbe und das gut erhaltene Interieur längst vergangener Zeiten.

Nicolette Waibel und Walter Liehner vom Stadtarchiv sowie SÜDKURIER-Lokalchef Stefan Hilser (von links) begrüßten die ...
Nicolette Waibel und Walter Liehner vom Stadtarchiv sowie SÜDKURIER-Lokalchef Stefan Hilser (von links) begrüßten die 27 SÜDKURIER-Leser zur Führung durch die Geschichte Überlingens und des Linzgaus. | Bild: Julia Rieß

Als Überlingen Teil des Großherzogtums Baden wurde, brachte man rund ein Drittel der Archivalien in das Karlsruher Archiv. Doch richtige Verluste erlitt das Archiv nicht, erklärte Liehner den Besuchern: "Es gab keine Stadtbrände, die den Bestand gefährden konnten, es ist fast alles erhalten geblieben."

"Drüberbeugen ja, aber nicht anfassen", bat Liehner die Gäste im Ostbau, als er ihnen die wertvollsten Preziosen des Archivs präsentierte. Bevor er die speziell angefertigten Boxen öffnete, in denen die Schätze lichtgeschützt aufbewahrt werden, zog er sich weiße Baumwollhandschuhe an. "Denn auch das Fett der Haut an den Fingern hinterlässt auf dem Pergament Spuren, die wir vermeiden wollen", erklärte Liehner. Das sei der ewige Zwiespalt, in dem das Archiv stecke: Einerseits sei es die Aufgabe, die Sachen zu bewahren und zu schützen – auf der anderen Seite, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Doch schon nach kurzer Zeit am Licht sehe man, wie sich das Pergament verändere. "Es nimmt in diesem Moment Schaden. Das ist der Grund, warum wir ganz genau abwägen, aus welchem Grund und mit welchem Ziel wir die Archivalien herausholen."

Das älteste Stadtrecht ist auf einer Pergamentrolle niedergeschrieben und stammt aus der Zeit um 1300.
Das älteste Stadtrecht ist auf einer Pergamentrolle niedergeschrieben und stammt aus der Zeit um 1300. | Bild: Julia Rieß

An diesem Tag wird eine Ausnahme gemacht, und die Besucher sind begeistert. Liehner zeigt die Pergamentrolle, auf der um das Jahr 1300 das älteste heute noch erhaltene Überlinger Stadtrecht niedergeschrieben wurde. Ausgerollt misst sie 2,73 Meter. Das Stück ist so gut erhalten, man sieht ihm die über 700 Jahre nicht an. Wie viele Bürger zu der Zeit in Überlingen lebten, möchten die Besucher wissen. Das wisse man nicht so genau, sagt Liehner, "aber um 1500 waren es so um die 3000 bis 3500 Einwohner." Das erste Stadtrecht besaß rund 100 Jahre Gültigkeit, bis die nächste Version in Buchform erschien.

Apropos Buch: Warum es heißt "ein Buch aufschlagen", demonstrierte der Stadtarchivar anhand eines historischen Exemplars, in dem alles an Archivalien aufgeführt ist, was Überlingen jemals im Archiv hatte. Die alten, mit Holzdeckeln und verstärkten Ecken umfassten dicken Bücher wurden mithilfe eisernen Schließen zusammengehalten. Um diese Schließen und damit das Buch zu öffnen, muss man mit der Hand kräftig auf den Buchdeckel schlagen.

Neben Akten zu Überlinger Hexenprozessen, der Päpstlichen Bulle aus dem Jahr 1417, also zur Zeit des Konstanzer Konzils, und Urkunden aus dem Spitalarchiv sorgte vor allem der Überlinger Wappenbrief aus dem Jahr 1528 für ehrfürchtiges Staunen unter den Besuchern. Mit diesem verlieh Karl V. der Stadt ihr gebessertes Stadtwappen mit dem Schwert tragenden roten böhmischen Löwen, der für die heutige Fastnachtsgesellschaft Pate steht.

Groß war der Andrang, viele hatten sich für die exklusive Archivführung beworben – 27 SÜDKURIER-Leser durften dabei sein. Mehr wären bei ...
Groß war der Andrang, viele hatten sich für die exklusive Archivführung beworben – 27 SÜDKURIER-Leser durften dabei sein. Mehr wären bei den engen Räumlichkeiten des historischen Gebäudes nicht möglich gewesen. | Bild: Julia Rieß

Weiter ging es über die steinerne Wendeltreppe in das obere Stockwerk, wo Gemälde, Stiche und Sammlungen zu sehen waren, die Liehner im Laufe der Jahre zugetragen wurden oder die er durch Zufall fand – so wie ein altes Musterbuch der Druckerei Veith oder eine Siegelsammlung aus Privatbesitz. Schließlich durften die Gäste einen Blick in das Magazin werfen, das sämtliche Ratsprotokolle enthält – bei konstanten 16 Grad und 55 Prozent Luftfeuchtigkeit, was dafür sorgt, dass auch das älteste Protokoll aus dem Jahr 1422 noch erhalten geblieben ist.

Als SÜDKURIER-Lokalchef Stefan Hilser dem Archivar für die höchst unterhaltsame und spannende Reise durch die Überlinger Geschichte dankte, sagte dieser: "Wir sind eineinhalb Mitarbeiter hier im Archiv. Das ist ein einsamer Job. Das macht nur Spaß, wenn Geschichte unsere große Leidenschaft ist. Und das ist sie."