Nicht die verdiente Aufmerksamkeit bekommen aus Sicht von Stadtarchivar Walter Liehner die zahlreichen besonderen Grabmäler auf dem städtischen Friedhof. "Für uns sind das Kleindenkmäler, die viel zu stiefmütterlich behandelt werden", erklärte Liehner zu Beginn seiner Führung zum Tag des offenen Denkmals. Die Erinnerung an wichtige Persönlichkeiten sind für ihn wie die "aufgeschlagenen Seiten eines Geschichtsbuches". Einige davon illustrierte Liehner für die Teilnehmer mit interessanten Details, nach dem er den Zusammenhang des nahen mittelalterlichen Städtchen mit dem Ort "auf der Wiese" hergestellt hatte, wo seit 1531 werden die Bestattungen vorgenommen werden. Zuvor waren die Toten rund um das Münster begraben worden, wovon noch heute das Hochkreuz zeugt. Der erste Überlinger Friedhof indessen ist noch nicht einmal ein Jahr lang bekannt, wie Walter Liehner erklärte. Die Stätte an der Zahnstraße wurde erst durch die Skelettfunde vom Oktober 2015 und die Ausgrabungen im Frühjahr offenkundig, die Experten auf die Zeit um 700 datieren.

Der hintere Teil des Chores ist Grablege der Familie von Pflummern, deren finanzieller Beitrag die Errichtung des Neubaus nach der ...
Der hintere Teil des Chores ist Grablege der Familie von Pflummern, deren finanzieller Beitrag die Errichtung des Neubaus nach der Zerstörung im 30-Jährigen Krieg ermöglichte.
An der Seitenwand der Kapelle befinden sich Ehrengrabmäler verdienter Bürger: Hier von Bürgermeister Maurus Betz und Landrat Hermann ...
An der Seitenwand der Kapelle befinden sich Ehrengrabmäler verdienter Bürger: Hier von Bürgermeister Maurus Betz und Landrat Hermann Levinger.

Die erste Kapelle auf dem heutigen Friedhof ist ebenfalls gleich im 16. Jahrhundert erstellt worden. Allerdings wurde sie wie fast die ganze Anlage während des 30-Jährigen Kriegs zerstört. Davon zeugt heute noch das Altbarbild im Chor aus dem Jahr 1664, das zur Grablege der Familie Pflummern im Anbau gehört. Auch im Grundbucheintrag spiegelt sich dies wider. Das Grundstück, auf der die Kapelle steht, ist zweigeteilt und nur der vordere Hauptteil gehört der Stadt und dem Spital. Die Familie des bedeutenden Bürgermeisters aus dem 17. Jahrhundert hatte den Neubau damals finanziell erst möglich gemacht und sich als Gegenleistung die private Grablege gewünscht.

Für andere wichtige Persönlichkeiten späterer Jahre sind Ehrengrabmäler an der Außenwand der Kapelle sichtbar. Unter dem großen mittelalterlichen Stahlkreuz, das noch vom Franziskanerkloster stammt, dann auf dem Friedhof aufgestellt wurde und inzwischen schon mehrfach repariert werden musste, erinnert eine Tafel an Bürgermeister Maurus Betz (1854 bis 1920), der in Überlingen um die Jahrhundertwende wichtige Akzente setzte. In seine Zeit fielen unter anderem der Bau der Eisenbahn und der "herrschaftlichen Amtsgebäude an der Bahnhofstraße", wie Walter Liehner erläuterte. Gleich daneben finden sich Landrat Hermann Levinger und dessen Familie. Levinger harmonierte gut mit Maurus Betz und verfolgte das Ziel, in Überlingen den Tourismus und nicht die Industrie zu forcieren. Nach Ende der Amtszeit zogen die Levingers 1930 aus gesundheitlichen Gründen nach Wiesbaden. Im Dritten Reich wurde die zum Protestantismus konvertierte Familie Juden verfolgt. Angesichts der drohenden Deportation begingen Vater und Tochter Selbstmord, um in der alten Heimat bestattet zu werden.

Auch am Hauptweg des Friedhofes zeugen besondere Grabmale von wichtigen Persönlichkeiten der Stadt – zum Beispiel des Ingenieurs Seubert, der die Eisenbahntunnel und die Villa Lux an der Kreuzung Goldbacher Straße/Auf dem Stein baute. Schmiedeeiserne Kreuze erinnern im anderen Prominentenbereich an Victor Mezger senior und junior, der Vater Bildhauer und Künstler, der Sohn als genialer Zeichner und Chronist der Narrenzunft bekannt. Diese vielfältige Struktur des gewachsenen Friedhofs erhalten will die Stadt, so Liehner, unter anderem mit dem Angebot von Patenschaften für abgelaufene bedeutende Gräber.

Die Übernahme von Verantwortung und Pflege ermögliche es, die Gräber an der angestammten Stelle zu belassen. Als Gegenleistung wird den Paten eine Nutzung dieser Grabstelle oder die Wahl einer anderen zugestanden.

Die neue Nummer 1

Zumindest aus chronologischer Sicht gibt eine neue Nummer 1 unter den geschichtlich dokumentierten Überlinger Beisetzungsstätten. Bei Erdarbeiten waren im Oktober 2015 an der Zahnstraße Teile von vier Skeletten im Boden aufgetaucht. Im April konnten die Archäologen drei davon freilegen und die Form der Bestattung eruieren. Dabei stießen sie in größerer Tiefe auf eine Steinkiste mit einem Frauenskelett. Wie alt die Knochen genau sind, will Stadtarchivar Walter Liehner mit einer C14-Radiocarbon-Untersuchung auf plus/minus zehn Jahre ermitteln lassen, muss sich dafür die Kosten von 1250 Euro pro Untersuchung noch aus seinem Budget zusammensparen. Doch die bei der Ausgrabung gewonnenen Erkenntnisse der Archäologen deuten für die Wissenschaftler recht eindeutig auf Wurzel um 700 hin. Es sind wohl typisch merowingische Reihengräber, wie sie aus dieser Zeit bekannt sind. Dass die Knochen noch so gut erhalten waren, führt Liehner unter anderem auch auf das umgebende Kalkgestein zurück, das ein "Auslaugen der Skelette" verhindert habe. (hpw)