Auch der Philosoph der Linie musste erst auf den Punkt kommen. Anders gesagt: Diether F. Domes musste sich seine Handschrift erarbeiten. Daraus machte der am 16. Oktober vergangenen Jahres verstorbene Künstler zwar nie einen Hehl; auch frühere Retrospektiven enthielten Werke, die vor der Zeit ab etwa 1969 lagen, in der sich die zum Kennzeichen werdenden Linien-Tektoniken herausschälten. Aber diese Ausstellung nun – "Realisierte Utopien. Das Werk 1960 bis 2016" – gräbt noch einmal tiefer. Sie beginnt noch vor den Studienjahren an der Karlsruher Akademie bei Wilhelm Meistermann, setzt schon mit der Zeit der Werkkunstschule Kassel ein. Von 1960 stammt das älteste dieser unbekannten Bilder. Domes ist damals gerade knapp über 20, und er malt, in Öl auf Leinwand, ein geometrisches Stilleben von Flaschen in rotbraunen Tönen. Andere Leinwände, sechs Jahre später, zeigen ihn als Maler verwischter Farbflächen, irgendwo zwischen Mark Rothko und Tachismus; das erste erregte Gestrichel taucht auf.
Diether F. Domes stellte diese Bilder nicht aus. Aber nun liegen sie offen – die Nachwelt hat das Wort. In einer Verbindung aus Zeitabschnitten und Themensetzungen schlüsselt Kuratorin Ulrike Niederhofer das Lebenswerk von Diether F. Domes auf, mit etwa 80 Arbeiten aus seinem Atelier in Eriskirch. Dass die Retrospektive zum Nachruf auf den Künstler aus der Kraft seiner eigenen Werke wird, war nicht vorgesehen; erste Pläne zur Ausstellung wurden schon vor zwei Jahren gemacht. Dass sie nun Gestalt angenommen hat, ist das Ergebnis der Zusammenarbeit von Diether Domes' Familie mit dem Kulturamt des Bodenseekreises sowie dem Museum Langenargen. Wenn die Ausstellung in Meersburg schließt, wandert sie nach Langenargen weiter.
Diether Domes war stets der erste Exeget seines Werks; nun ist er nicht mehr da. Dass sein Denken in der Ausstellung über die Arbeiten hinaus präsent bleibt, dafür sorgt der Katalog (17 Euro) mit letzten Interviews, die Stefan Feucht mit ihm führte. Auch Domes' "Manifest der Linie" findet sich darin: "Linie schichtet, verkantet, zeigt das Unterste zuoberst, scheint durch und lässt Räume zu, bildet sie und verwirft sie. Linie kantet um und schafft Utopien, zeigt Wege auf, die nie enden, Linie, Schwebe zwischen zwei Punkten."
Eine "realisierte Utopie" ist ein Widerspruch in sich. Aber bei Domes verlor die gezogene Linie ihren utopischen Charakter nicht, weil sie Aufbruch, Abbruch, Neuanfang blieb – in Verwandlung begriffen wie im Siebdruck "Vogelland" (1976), in dem ein fast Max Ernstsches Flügelwesen entsteht, gebildet aus aufgebrochenen Erdschichten. Domes war nicht nur ein "Philosoph" der Linie, sondern auch ihr Alchemist, und die Ausstellung zeigt die Variationsbreite, in der er ein Künstlerleben lang die Tragfähigkeit seines Konzepts erprobte. In den Kunst-am-Bau-Projekten arbeiteten seine Glasfenster und Wandbilder nicht nur mit der jeweiligen Architektur, sondern subtil auch gegen die Letztgültigkeit ihrer unveränderlich gebauten Form. "Vernagelte Utopie" betitelte er schon 1973 eines seiner gemalten Liniengeflechte, weil es von realen Dachlatten verbaut wird.
Die gedachte Linie hat Vorrang gegenüber der gebauten – und so machte Domes in seinen Fotografien realisierte Architekturen zur Grundlage utopischer Räume: in Mehrfachbelichtungen vervielfältigte er die Raumlinien, setzte die Grenzen des Realen außer Kraft – und half damit auch der Architektur in ihrem Anspruch, Möglichkeit zu sein – nicht Grenze. In diesem Sinne über das Gegebene hinausahnen zu können, machte Diether F. Domes zu einem renommierten Künstler auch im kirchlichen Auftrag. Die Gestaltung der Antependien für die Dresdener Frauenkirche markieren hier den Höhepunkt seines Schaffens. Eines davon ist als Leihgabe Teil der Ausstellung.
Als Glaskünstler war Domes international renommiert – und für die seit den 1960ern realisierten Glasfenster war die Linie unverzichtbares statisches Element: Als Bleistege gaben sie den aus einzelnen Formscherben zusammengesetzten farbigen Gläsern ihre Festigkeit. Später stellte Domes die Scheiben als Skulptur frei in den Raum, kehrte aber die Logik der Linie um: Er arbeitete nun mit ganzen farbigen Scheiben und kratzte die Farbe aus. Glas und Farbe wurden Formgeber von Linien, die selbst nichts waren als Negativform, Erscheinung.
Der Gefahr der Wiederholung begegnet er seit 1994 in seinen Klangzeichnungen: Diether F. Domes zeichnete vor Publikum mit Grafit und Rötel zu Livemusik. Er ließ sich von ihr zu gesteigerter Impulsivität verführen, durch unvorhersehbare Improvisationen, auf die er reagierte. Die Linie schwamm sich frei von Einengungen, die nach Jahrzehnten nicht ausbleiben können, und sie eroberte sich dabei oft die Freiheit des tachistischen Gestrichels des Anfangs zurück. Nun als Neuanfang.
Bis 17. April in der Galerie Rotes Haus (Schlossplatz 13) in Meersburg. Geöffnet Di bis So und feiertags von 11 bis 17 Uhr. Danach von 23. April bis 15. Oktober im Museum Langenargen. Geöffnet Di bis So und feiertags von 11 bis 17 Uhr.