„Ich bin, glaube ich, über das Zeichnen zum Schreiben gekommen“, erzählt Alissa Walser, die Malerin, die anfänglich nichts mit Text zu tun haben wollte und ihre titellosen Kunstwerke ausschließlich als Material auf Bildträgern verstand. Damals, zu ihrer Zeit in New York, da war sie bereits gekränkt, wenn Leute Geschichten hineininterpretierten. Erst als sie nach Deutschland zurückgekehrt war, veränderte sich ihre Beziehung zum Material. „Ich bin dann mit Filzstiftzeichnungen sehr figürlich geworden“, sagt sie, das seien dann eigentlich schon Geschichten gewesen. Was lag da näher, als schließlich beides zu kombinieren, „Prosabücher mit Bild, das ist immer etwas, das ich mir wünsche, deshalb habe ich dann selbst solche Bücher gemacht“.
Was die Künstlerin über ihre Entwicklung, den fließenden Übergang vom Malen zum Schreiben, schildert, die Kombination zweier unterschiedlicher Wahrnehmungsformen, nähert sich dem lateinischen Wort fluxus an – wandelbar, zerfallend, fließend. Und so überschreibt sie die erste Geschichte, die sie an diesem Abend im Kiesel liest, mit „Fluxus“. Jenem „Fluxus“, das eine Kunstrichtung benennt, bei der es nicht auf das Kunstwerk ankommt, sondern auf die schöpferische Idee. Der fließende Übergang zwischen Kunst und Leben – deren Einheit. Mit spürbarer innerer Ruhe liest sie aus ihrem jüngsten, erst zehn Tage alten Buch, mit dem Titel „Eindeutiger Versuch einer Verführung“. Liest von der Freundin aus der Stadt, die zu Besuch kam und sich umsah: Schön habt ihr’s hier. Sie stand zwischen Herd und Kühlschrank und schaute die Wand an, sagte: Ach. Lachte, suchte ihre Lesebrille. (... ) An der Wand hing nichts als eine Mottenfalle, auf der vereinzelt tote Motten klebten. (...) Sie hielt die Falle für ein Kunstwerk.“
Mit zarten Strichen illustriert Walser den Text auf der gegenüberliegenden Seite des Buches, lässt die Motten Richtung Text fliegen, die meisten kleben bereits in der Kunstwerkfalle. Überhaupt, die Tiere. Sie sind ein wichtiges, wiederkehrendes Motiv in ihren Geschichten. Wie in der vom alten Hund. „Am Abend, bevor der Hund eingeschläfert wurde, schreibt die Mutter eine SMS. Es geht ihm endgültig schlecht. Heute Abend kommt die Tierärztin.“ In der Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter steht das „Soll er denn leiden, nur weil du das Sterben nicht erträgst?“ gegen „Das Wesen bestimmt, wann es Zeit ist zu gehen!“. So charakterisiert Walser im Dialog zwei Menschen, in ihrer Welt, mit ihrer eigenen Philosophie, gefangen in ihrer Wahrnehmung.
Dass diese unterschiedlichen Lebensrealitäten im Alltag selten zusammenpassen, wird in allen Texten des Abends deutlich. Da richtet die Frau des Spinnenliebhabers, am Tag nachdem er sie verlassen hat, ein Blutbad unter seinen Schützlingen an, während die Tochter, auf die Achtung vor den Achtbeinern konditioniert, sich vorsichtshalber in die Bettdecke einrollt, um deren Eindringen – „sie sind von der großen, dünnen Sorte“ – zu verhindern.
Die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin und Übersetzerin, die in Friedrichshafen geboren ist und heute in Frankfurt a.M. lebt, scheint besonders die Vögel zu lieben. In „Nachtigall“ schildert sie nicht nur deren ohrenöffnenden Gesang: „Wenn der Naturschutzbeauftragte des Landkreises bei jeder Gelegenheit sagt: ‚Sehen Sie, bei uns ist sogar die Nachtigall wieder heimisch’, schauen alle weg von den steigenden Immobilienpreisen, den morschen, unbewohnten Fachwerkhäusern an der Durchgangsstraße, den Umgehungsstraßen, die die Landschaft zersägen.“ Mit dem Blick auf den Bodensee aufgewachsen, liebt sie dessen Nebeltage, skizziert die Enten, Möwen und Schwalben. Mit feinem Filzstift zeichnet Alissa Walser bildhafte Einfälle und Beobachtungen aufs Papier. Es sind kleine, mit Wörtern gemalte Bilder.