Angst haben ist überlebenswichtig, sagt Psychologin Josefa Gitschier von der psychologischen Beratungsstelle in Überlingen. Doch Angst kann auch zur Störung werden. Den Statistiken zufolge sind in Deutschland Angststörungen die häufigste psychische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter – rund zehn Prozent leiden darunter. Josefa Gitschier und ihr Kollege Karsten Knapp erklären, welche Ängste normal sind und wie Eltern ihren Kindern bei der Angstbewältigung helfen können.

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Sie helfen Familien in Notsituationen: die Psychologen Karsten Knapp und Josefa Gitschier von der psychologischen Beratungsstelle des Caritasverbands in Überlingen. | Bild: Nitzsche, Viktoria

Frau Gitschier, Herr Knapp, die psychologische Beratungsstelle bietet Betroffenen Hilfe in allen möglichen Lebenslagen an. Inwiefern spielt das Thema Angst bei den Eltern und Kindern, die zu Ihnen kommen, eine Rolle?

Gitschier: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt viele Eltern, die viel Angst um ihre Kinder und deren Entwicklung haben. Da kommen dann Sorgen um die Zukunft des Kindes zur Sprache, Angst, dass sie vielleicht die falschen Freunde haben. Aber natürlich geht es auch viel um die Ängste von Kindern selbst, weshalb die Familien dann bei uns Rat suchen. Schulangst zum Beispiel ist ein Thema, das häufig angesprochen wird. Wenn das Kind die Schule verweigert, weil es vor bestimmten Situationen Angst hat.

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Knapp: Bei älteren Kindern geht es häufig um die Angst vor Schulreferaten oder auch Prüfungsangst. Kleinere Kinder haben meist Angst, in den Kindergarten zu gehen, weil sie nicht von ihrer Mutter getrennt werden wollen. Und dann gibt es eben auch die entwicklungstypischen Ängste.

Welche Ängste sind denn in welchem Alter entwicklungstypisch?

Knapp: Für Säuglinge sind es meist laute Geräusche. Später kommt das sogenannte Fremdeln dazu, also die Angst vor Menschen, die nicht Mama oder Papa sind. Im Kindergartenalter geht es dann oft um Angst vor Dunkelheit, Gewitter, Einbrechern oder bestimmten Tieren. Bei Schulkindern ist die Angst vor Krieg, Krankheit oder sozialen Situationen weit verbreitet. In der Pubertät ist das Thema Sexualität häufig etwas, das Angst oder zumindest unsicher macht.

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Woher kommen diese entwicklungstypischen Ängste?

Knapp: Im Laufe der Entwicklung eines Kindes erweitert sich der Wahrnehmungshorizont. Den Kindern werden immer mehr Dinge bewusst. Es ist einfach so, dass neue, unbekannte Reize einen immer unsicher machen. Altersspezifisch gibt es also immer neue Themen, die potenziell ängstlich machen können.

Was haben diese Ängste für einen Sinn?

Gitschier: Prinzipiell ist Angst ja etwas Gutes. Angst warnt uns beispielsweise vor Gefahren und ist insofern überlebenswichtig. Bevor wir etwas tun, vor dem wir Angst haben, überlegen wir sehr gut, wie wir die Situation bewältigen und mehr Sicherheit herstellen können. Das ist beim Entwicklungsprozess von Kindern sehr wichtig. Gelingt es, eine Angstsituation zu meistern, setzt ein Lernprozess ein und so können sich die Kinder Schritt für Schritt weiterentwickeln und bestimmte Ängste abbauen.

Was sind konkrete Anzeichen dafür, dass ein Kind eine extreme Angst entwickelt hat?

Gitschier: Wenn das Kind aufhört Dinge zu tun, die es sonst gern macht. Oder wenn es plötzlich über unerklärliche Schmerzen klagt: Bauchweh, Kopfweh oder Ähnliches. Da sollte man hellhörig werden. Ganz pauschal lässt sich das aber natürlich nicht sagen. Eltern sollten ihre Kinder beobachten. Wenn sich in ihrem Verhalten plötzlich etwas grundlegend ändert, sollte man aktiv werden. Das Bauchgefühl trügt meistens nicht.

Knapp: Allgemein gilt: Je früher die Diagnose gestellt wird, desto besser ist die Prognose, dass sich eine Angststörung wieder legt.

Gibt es eine Faustregel, wie lange die entwicklungstypischen Ängste normalerweise andauern?

Knapp: Bei den entwicklungstypischen Ängsten handelt es sich normalerweise um eine Phase, in der relativ milde Angstsymptome auftreten. Das Kind äußert zwar seine Angst, lässt sich aber auch beruhigen. Diese Phasen können einige Wochen, aber auch Monate andauern. Das ist sehr subjektiv, einfach weil jedes Kind sich unterschiedlich schnell entwickelt.

Was raten Sie Eltern, die unsicher sind, ob ihr Kind nicht doch vielleicht eine Angststörung entwickelt hat?

Gitschier: Lieber einmal mehr Rat suchen, als zu wenig. Prävention ist immer besser.

Knapp: Wir wollen den Eltern vermitteln, dass sie keine Hemmungen haben sollen, frühzeitig Hilfe zu suchen. Wir sind auch da, um bei ganz einfachen erzieherischen Fragen zu beraten. Im Zweifel kann man innerhalb eines Gesprächs alles klären. Oder wir begleiten die Eltern bei so einer Phase ihres Kindes – je nach dem, was hilfreich ist und den Eltern Sicherheit gibt.

Wie kann ich meinem Kind bei der Angstbewältigung helfen?

Gitschier: Nehmen wir das Beispiel eines Kindes, dass nach drei Jahren bei Mama zuhause plötzlich in den Kindergarten gehen soll. Da gibt es natürlich erst einmal Trennungsängste. Dann ist aber wichtig, dass das Umfeld dem Kind Sicherheit gibt und vermittelt, dass es in Ordnung ist, diese Angst zu haben. Eltern sollten sich mit den Ängsten ihres Kindes auseinandersetzen, sie ernst nehmen und ihm die Bewältigung der problematischen Situation auch zutrauen. Wenn Ängste dann überwunden werden, ist das eine ganz wichtige Erfahrung für das Kind.

Knapp: Selbstsicherheit ist der Gegenspieler von Angst. Selbstsicherheit gewinne ich, indem ich Erfahrungen mache. Wenn ich als Kind mit Trennungsangst also merke, dass mich die Mama nach drei Stunden wieder aus dem Kindergarten abholt, dann bekomme ich von Mal zu Mal immer mehr Vertrauen und die Angst nimmt ab.

Wie kann ich vermeiden, meine Ängste auf mein Kind zu übertragen?

Gitschier: Angst überträgt sich leider sehr schnell und sehr leicht. Eltern sollten sich deshalb unbedingt mit ihren eigenen Ängsten auseinandersetzen. Denn ein Kind bekommt es natürlich mit, wenn die Mutter wegen einer kleinen Spinne auf den Schrank hüpft, weiß aber ja gar nicht, dass das Tier eigentlich harmlos ist.

Knapp: Dass Angst sich schnell überträgt wurde auch experimentell bei Tieren nachgewiesen. Wenn die Affenmutter ängstlich auf bestimmte Reize reagiert, tun es ihre Kinder auch. Modelllernen ist eine Theorie, wie Ängste entstehen und manifest werden. Deshalb sollten Eltern bei sich beginnen und für Sicherheit sorgen, damit sie ihrem Kind auch Dinge zutrauen können. Wenn ich beispielsweise mein Kind jeden Tag zur Schule fahre, weil ich Angst habe, es könnte ihm etwas auf dem Schulweg passieren, dann spüren die Kinder, dass ihnen das nicht zugetraut wird und sind von sich aus unsicherer. Das müssen die Eltern nicht einmal formulieren. Dagegen wenn ich mein Kind auf die Situation, allein zur Schule zu gehen vorbereite, den Weg mit ihm erst einmal zusammen gehe und ihm dann Mut mache, es alleine zu schaffen, dann transportiere ich die Botschaft: "Du schaffst das, du kannst die Situation selbst bewältigen."

Also bewirken sogenannte Helikopter-Eltern eigentlich das Gegenteil von dem, was sie erreichen wollen und begünstigen Angstentwicklung statt Sicherheitsgefühl?

Gitschier: Ihr Verhalten vermittelt den Kindern, dass die Welt gefährlich ist und sie deshalb zum Beispiel nicht alleine aus dem Haus gehen können. Diese Eltern haben selber ganz viele Ängste und die übertragen sie auf ihre Kinder.

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Dennoch kann ich als Mutter oder Vater ja nicht alle meine Ängste loswerden, um meinen Kindern ein perfektes Vorbild zu sein. Wie sollte ich mit dem Thema umgehen?

Gitschier: Offenheit und Ehrlichkeit sind der beste Weg. Das Kind merkt immer, wenn jemand nicht die Wahrheit sagt oder etwas vorspielt. Am besten ist es, dem Kind zu kommunizieren, dass man da ein Problem hat, das sich rational nicht begründen lässt. Nehmen wir wieder das Beispiel einer Mutter, die Angst vor Spinnen hat und jedes Mal heftig reagiert. Dann wäre es klug, dem Kind zu sagen, dass es sich da lieber ein Beispiel am Vater nehmen soll, der kein Problem mit Spinnen hat. Anlügen oder Täuschen bewirkt bei einem Kind nur, dass es unsicher wird, weil es merkt, dass da etwas nicht stimmt.

Knapp: Im absoluten Idealfall könnte die Mutter dem Kind zeigen, wie sie an dem Problem arbeitet und ihm vorleben, dass man Ängste bewältigen kann.